Wo das „Herz“der EU klopft
Was früher Außenpolitik war, wurde zur Innenpolitik: Europa feiert das 30-jährige Bestehen des Binnenmarkts. Er brachte nicht nur den zollfreien Warenverkehr, sondern machte auch das bequeme Reisen möglich. Jetzt gibt es neue Herausforderungen.
Straßburg Als Europa am 1. Januar 1993 eine marktwirtschaftliche Revolution erlebte, fehlte der große Festakt, wie ihn die Europäer sonst so gerne ausrichten. Denn die Gründung des Binnenmarkts sorgte zwar für Optimismus, wurde aber von Unsicherheit begleitet. 30 Jahre später blickt die EU mit Stolz auf den einheitlichen Wirtschaftsraum. Als „echte Erfolgsgeschichte“pries ihn der CDU-Europaabgeordnete Andreas Schwab. Sein Parlamentskollege von der Europa-SPD, René Repasi, nannte ihn „das klopfende Herz der EU“. Die Vorsitzende des BinnenmarktAusschusses Anna Cavazzini (Grüne) sprach von einem „Motor der europäischen Integration“. Am Montag feierten die EU-Parlamentarier in Straßburg das Jubiläum.
Die Zahlen geben ihnen Recht: Fast 500 Millionen Verbraucher umfasst der Markt , der den freien
Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital garantiert und zu dem neben den 27 Mitgliedsstaaten Norwegen, Liechtenstein, Island und die Schweiz gehören. Auf 14,5 Billionen Euro belief sich das gemeinsame Bruttoinlandsprodukt in 2022. Nicht nur die Vereinheitlichung der Systeme war das Ziel: Der Binnenmarkt gibt den Bürgern die Möglichkeit, in der ganzen Union zu reisen, zu leben, zu arbeiten, zu studieren und Geschäfte zu tätigen.
Der Binnenmarkt habe „den nationalen Vorschriften-Dschungel gelichtet und dabei gleichsam Verbraucherrechte für alle gestärkt“, sagte Schwab, binnenmarktpolitischer Sprecher der CDU/CSUGruppe. Tatsächlich war das alte Europa der zwölf Mitglieder noch von Warteschlangen an den Grenzen, Zollkontrollen und konkurrierenden nationalen Regelungen geprägt. Jährlich mussten viele hundert Millionen Zollformulare ausgefüllt werden. Mit der Einführung des Binnenmarkts landeten von einem Tag auf den anderen tausende nationaler Vorschriften im Papierkorb. Was bislang Außenpolitik war, wurde nun Innenpolitik. Soziale Rechte für Arbeitnehmer, Angaben zur Höchstarbeitszeit, die Harmonisierung von Verbraucherschutz-Regeln und Leitlinien für die Hersteller. „Mit jeder Krise hat sich der Binnenmarkt weiterentwickelt“, so Grünen-Politikerin Cavazzini.
Nicht nur das: Dank der geeinten Wirtschaftskraft könne man laut Schwab globale Standards setzen, insbesondere im Digitalen: „Sowohl beim Datenschutz als auch der Vertrauenswürdigkeit und Fairness bei digitalen Plattformen wie Facebook oder TikTok leistet die EU weltweit Pionierarbeit.“
Wie weit die Verflechtungen innerhalb des Wirtschaftsprojekts reichen, zeigte wie unter dem Brennglas Großbritanniens Ausstieg aus der EU. Plötzlich ärgern sich Unternehmen wieder über Zölle, Touristen müssen Reisebeschränkungen hinnehmen und Wirtschaftsvertreter beklagen etliche Hürden, die seit dem Brexit die Handelsbeziehungen zwischen Insel und Kontinent teurer und komplizierter machen.
Bei aller Freude über den Binnenmarkt haben die Jahre auch Schwächen aufgezeigt. So wurden zu Beginn der Pandemie Grenzübergänge unkoordiniert geschlossen, was zu Chaos und leeren Supermarktregalen führte. Auch Russlands Krieg gegen die Ukraine diente vielen als Weckruf, etwa beim Thema Energie. Der Binnenmarkt müsse „krisenfest“gemacht werden, forderte Schwab. SPD-Politiker Repasi verlangt, die soziale Komponente zu stärken. Einige Bürger erlebten den Binnenmarkt mit seinem freien Wettbewerb auch „als einen Ort, in dem
Löhne unter Druck stehen, Arbeitsplätze verlagert werden und multinationale Unternehmen Steuern ‚optimieren‘ können“, so der EU-Abgeordnete.
Als größte Bedrohung bewerten EU-Vertreter aber die aktuelle Subventionspolitik von US-Präsident Joe Biden. Washington will grüne Technologien „made in USA“sowie Elektroautos, Batterien, energieintensive Industrien und Projekte zu erneuerbaren Energien mit hunderten Milliarden Dollar subventionieren. Wie soll die EU auf den Protektionismus der Amerikaner reagieren? Während vorneweg Deutschland offenbar die Regeln für staatliche Beihilfen in der EU lockern will, fürchten viele der kleineren Partner, in einem Wettlauf von den reichen EULändern abgehängt zu werden. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager warnte, ein massiver Anstieg der Subventionen berge die Gefahr „einer Zersplitterung des Binnenmarktes“.