Neu-Ulmer Zeitung

Warum der Kapitalism­us seine Grenzen überschrit­ten hat

In der Woche des Weltwirtsc­haftsforum­s geht es in Davos um die ganz großen Fragen. Mal wieder. Und danach ändert sich wenig bis nichts. Reden ist wichtig, aber die elitäre Runde steht für ein System, das nicht mehr funktionie­rt.

- Von Stefan Küpper

Wenn es so ist, wie es in seinen Statuten geschriebe­n steht, dass also das Weltwirtsc­haftsforum „den Zustand der Welt“verbessern möchte, dann ist in den Graubündne­r Bergen spektakulä­r viel zu erledigen. Man könnte auch sagen, dass es in den vergangene­n Jahren eher nicht gelungen ist, das selbstgese­tzte Ziel auch nur annähernd umzusetzen. Oder, dass die Welt im Begriff zu sein scheint, spektakulä­r an sich selbst zu scheitern.

Spitzenpol­itikerinne­n und Unternehme­r, Tycoone und Ökonominne­n wollen die „Zusammenar­beit in einer zersplitte­rten Welt“diskutiere­n. Zersplitte­rt trifft es ziemlich gut. Und zwar in einem Maße, dass sich zwingend die Frage stellt, ob das kapitalist­ische Wirtschaft­ssystem global in der Lage ist, zumindest manche dieser Splitter wieder zu etwas Stabilerem zusammenzu­setzen.

Mal ein paar Fakten, die ganz gut zeigen, was im Argen liegt: Wie immer vor Davos hat die Entwicklun­gsorganisa­tion Oxfam den Bericht zur sozialen Ungleichhe­it veröffentl­icht. Unter dem provokante­n wie treffenden Titel „Survival of the Richest“ist die wesentlich­e Erkenntnis: Die Reichen werden immer reicher. Seit Beginn der

Corona-Pandemie, so Oxfam, habe das reichste Prozent der Weltbevölk­erung rund zwei Drittel des weltweiten Vermögensz­uwachses kassiert. Gleichzeit­ig leben 1,7 Milliarden Beschäftig­te in Ländern, in denen Lebenshalt­ungskosten schneller steigen als Löhne. Erstmals seit 25 Jahren, betont Oxfam, haben extremer Reichtum und extreme Armut gleichzeit­ig zugenommen. Weiter schreiben die Kapitalism­uskritiker, dass 95 Lebensmitt­elund Energiekon­zerne weltweit ihre Gewinne im Jahr 2022 mehr als verdoppelt haben. Sie erzielten demnach 306 Milliarden US-Dollar an Zufallsgew­innen und schütteten 257 Milliarden USDollar (84 Prozent) davon an Aktionärin­nen und Aktionäre aus. Umgekehrt leiden rund 828 Millionen Menschen – also etwa jeder zehnte Mensch auf der Erde – an Hunger. Fast 60 Prozent davon: Frauen und Mädchen.

Damit ist nur eine der Unwuchten beschriebe­n, die das Weltwirtsc­haftssyste­m offensicht­lich hervorgebr­acht hat. Und das, nachdem in den vergangene­n Jahren – vor der Pandemie und bevor Russland die Ukraine überfiel – der globale Wohlstand durchaus gewachsen war. Damit hier kein Missverstä­ndnis entsteht: Die Marktwirts­chaft, und vor allem die soziale Marktwirts­chaft, viele mutige Unternehme­rinnen

und Unternehme­r, haben gerade Deutschlan­d reich gemacht und Generation­en ein Leben in wachsendem Wohlstand ermöglicht. Das System hat sehr gut funktionie­rt. Zu gut.

Dass unser vergleichs­weise sehr üppiges Leben aber auf Kosten anderer geführt wurde und wird, beklagen längst nicht nur die üblichen Verdächtig­en. Um nur einen besonders bekannten herauszugr­eifen: Ray Dalio, Gründer des weltweit größten Hedgefonds Brigewater Associates, sagte zuletzt dem Spiegel über den Kapitalism­us: „Werden gute Dinge übertriebe­n, drohen sie, sich selbst zu zerstören. Sie müssen sich weiterentw­ickeln oder sterben.“Seine Plädoyer: Wenn Wohlstand und Reichtum nur noch einseitig verteilt würden, wenn Arme keine Chance mehr hätten, dann gehöre der Kapitalism­us grundlegen­d reformiert. Der Mann ist kein verträumte­r Utopist, sondern ein nüchtern kalkuliere­nder Zahlenmens­ch. Nachzulese­n ist das in seinem jüngsten Buch „Weltordnun­g im Wandel – Vom Aufstieg und Fall von Nationen“.

Zugleich kommt es immer wieder vor, dass Millionäre dazu aufrufen, sie mögen höher besteuert werden. Zuletzt zum Beispiel Marlene Engelhorn. Sie ist die Enkelin des BASF-Gründers Friedrich Engelhorn.

Es fehlt nicht an Einsichten. Es fehlt aber an der Umsetzung. Die Einführung einer Übergewinn­steuer ist sicher ein guter wie schwierig umzusetzen­der Ansatz.

Sie kann aber auch nur der Anfang einer Umverteilu­ng sein.

Wohin ökonomisch­e Perspektiv­losigkeit der Massen führt, daran kann man sich – 100 Jahre nach 1923 – durchaus erinnern. Krieg herrscht schon wieder in Europa und er fördert nicht, dass sich die Weltgemein­schaft der gemeinsame­n Aufgaben besinnt: Zur Polykrise gehören ja nicht nur die wachsende Ungleichhe­it, die sozialer und politische­r Sprengstof­f ist, die Kriege (Ukraine) und drohenden Konflikte (Taiwan), dazu gehört vor allem der drohende Klimakolla­ps – mit ausgelöst von einem Jahrzehnte gültigen Wachstumsi­mperativ.

Zentral, meint etwa die Innovation­sökonomin Mariana Mazzucato, ist – dass sich die Staaten quasi wieder selbst ermächtige­n. Sie schreibt in „Mission – Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft“: „Um den Kapitalism­us anders anzugehen, braucht es einen Neuentwurf des gesamten Potenzials (...)“. Der Markt alleine werde es eben nicht richten. Es brauche den Staat, der sehr klar sage, wo es langgehe. „Es braucht“, schreibt die Frau, die auch die Bundesregi­erung und Wirtschaft­sminister Habeck inspiriert, „eine fundamenta­l neue Beziehung zwischen allen Wirtschaft­sakteuren...“. Beisammen wären sie alle, in Davos.

 ?? Foto: dpa ?? Das Weltwirtsc­haftsforum hat begonnen. Zu bereden ist vieles.
Foto: dpa Das Weltwirtsc­haftsforum hat begonnen. Zu bereden ist vieles.

Newspapers in German

Newspapers from Germany