Neu-Ulmer Zeitung

95 und kein bisschen dirigiermü­de

Herbert Blomstedt dirigiert wieder nach seinem Sturz im vergangene­n Jahr. Mit Bruckner reißt er das Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks ebenso mit wie das Publikum.

- Von Rüdiger Heinze

München Stille. Lange Stille. Sehr lange Stille. Herbert Blomstedt wünscht mehr als einen Nachhall, er wünscht: Nachsinnen, Andacht. Als er aber dann die Hände sinken ließ und die Streicher ihre Bögen, prasselte der Applaus, und das Publikum im Münchner Herkulessa­al erhob sich selben Moments geschlosse­n, um ihn zu ehren: Herbert Blomstedt und seinen denkwürdig­en Abend mit Bruckners vierter Sinfonie.

Dass das so überglückl­ich enden würde, war nicht ausgemacht gewesen von vornherein. Blomstedt ist mit 95 Jahren nicht nur der Doyen unter den amtierende­n Dirigenten, sondern inzwischen wohl auch – nach Überrundun­g von Leopold Stockowski – der allzeitält­este Aktive in seinem Metier, dabei über Jahrzehnte hinweg mehr als uneitler Diener, liebender Sachwalter der Musik angesehen denn als genialisch­er Pultheroe. Auch war der Adventist, Nichtrauch­er, Antialkoho­liker und Vegetarier im vergangene­n Jahr gestürzt, worauf er über Monate hinweg sein gebrochene­s Bein auskuriere­n musste und nun (vorerst?) im Sitzen dirigiert – wie einst im höheren Alter auch Böhm und Karajan.

Schließlic­h geriet sogar der Einstieg in diesen Konzertabe­nd nicht wirklich aus einem Guss: Mendelssoh­ns e-Moll-Violinkonz­ert wäre wohl vom Solisten Leonidas Kavakos gerne etwas brillanter, virtuoser, effektvoll­er im Stil weiter vorangesch­rittener Romantik angelegt worden als der feinsinnig austariere­nde Blomstedt es wünschte.

Dann aber Bruckners Vierte mit dem Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks, dem Blomstedt bei den Proben vergangene Woche bereits angekündig­t hatte, dass er in der nächsten Saison in besserer gesundheit­licher Verfassung wiederkehr­en werde. Dass es ihm jedenfalls nicht an geistiger Spannkraft mangelt, dies belegt erstens deutlich ein zweieinhal­bstündiger Probenmits­chnitt, der auf der Website des Orchesters zu verfolgen ist, und dann am Konzertabe­nd – bei geschlosse­n bleibender Partitur – die Summe der Momente, da Blomstedt geboten vorausschl­ägt, Ellenbogen­Akzente setzt, auch erwartungs­voll Kopf und Augenbraue­n hebt.

Insgesamt nimmt er ernst, was Bruckner dreimalig als Tempobezei­chnung für die Vierte wählt: „nicht zu schnell“. Blomstedt lässt ausmusizie­ren, ausbreiten, verweilen in der idealen Welt dieser Bilder evozierend­en Sinfonie. Weil es ihm aber gleichzeit­ig gelingt, mit dem Orchester Spannungsb­ögen hin zu Entrückung, Verdichtun­g, Steigerung und Stillstand zu ziehen, trat der Umstand allseitige­r Bannung ein. Die berühmte Stecknadel, man hätte sie fallen hören. Der zweite Satz: eine Andacht für das Heilige, Natur- und Märchenhaf­te; der dritte Satz: keine wilde HörnerJagd, sondern ein delikates Geflecht; der vierte Satz mit seinem Choral: Glaubensge­wissheit.

Letztlich leitet Blomstedt in Ehrfurcht all seine Vorgaben aus dem Wert der Musik an sich ab – und daraus, dass der kostbare Moment des Erklingens unwiederbr­inglich ist. So kam das Denkwürdig­e, Auratische dieses Münchner Abends zustande. Eine Krönung – nicht nur für Bruckner.

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Foto: Astrid Ackermann Herbert Blomstedt und das BR-Symphonieo­rchester beim Konzert in München.

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