Wolfgang Treß spielt seit 65 Jahren die Wiblinger Orgel
Schon als Jugendlicher liebte er das Orgelspiel. Trotzdem entschied er sich gegen ein Kirchenmusikstudium. Warum er diese Entscheidung nie bereute.
Ulm Auf die Frage, wie lange genau er schon in Wiblingen an der Orgel sitzt, lacht Wolfgang Treß: „Am 1. Januar 1958 habe ich den Vertrag unterschrieben.“65 Jahre und ein paar Tage sind es also, seit Treß den Orgeldienst aufnahm. Knapp 17 Jahre alt war er damals, und ein geliebtes Hobby musste er dafür aufgeben, das Kicken. Trotzdem: Die Musik, die Orgel blieb seine Welt. „Und ein fanatischer Fußballfan bin ich trotzdem immer noch“, gibt Treß zu.
Eigentlich wollte er sogar Kirchenmusik studieren, erzählt der Wiblinger, der in diesem Januar 82 Jahre alt wird und den schon manch einer als „Urgestein“der Orgelmusik in Ulm bezeichnet hat. Aber damals, in den 1960er-Jahren, waren A-Stellen in der Kirchenmusik rar. Sein Orgellehrer Hans Jakob Haller, der zu jener Zeit – seit 1955 – Kirchenmusikdirektor am Ulmer Münster war, riet dem Jugendlichen deshalb von einer Profilaufbahn in der Kirchenmusik ab. „Werd’ Lehrer und betreib’ die Kirchenmusik nebenher“, sagte er ihm. Der Schüler befolgte den Rat und trat in die Fußstapfen seines Vaters, der ebenfalls Lehrer und nebenberuflicher Organist war. In einer musikalischen Familie wuchs Wolfgang Treß sowieso auf, mit Klavierunterricht von Kindesbeinen an und Orgelunterricht ab dem 14. Lebensjahr.
Beim Hausbau in den 60er-Jahren schaffte er für zu Hause sogar eine eigene mechanische Orgel an. „Schulden hatten wir sowieso, da kam es darauf auch nicht mehr an“, erzählt er über den brennenden Wunsch, den er sich damals erfüllte, und der ihm auch heute nützt: Jeden Vormittag übt er eine Stunde auf dem Instrument, das ihm erspart, sich in die kalte Kirche zu setzen. 42 Jahre unterrichtete Wolfgang Treß an der Wiblinger Sägefeldschule – und ist innerlich aufgeräumt mit der damaligen Entscheidung gegen das Kirchenmusikstudium.
„Ich war sehr, sehr gern Lehrer.“Und natürlich stieg er mit seinen Grundschülern auch jedes Jahr die Türme der Basilika hinauf und zur Empore – auf der in all der Zeit noch keine Orgel stand. Denn die Wiblinger Orgel initiierte Dekan Ulrich Kloos, sie wurde 2021 und damit 238 Jahre nach Vollendung der Kirche realisiert.
Fünf Grad hat es gerade auf der Empore der Wiblinger Basilika, dort, wo nun seit bald zwei Jahren diese von Claudius Winterhalter gebaute Orgel steht – die Wolfgang Treß einweihen durfte. Diese Orgel hat immerhin drei Heizmöglichkeiten,
eine davon ist eine Tastenheizung. Aber um die Orgel herum ist es sehr kalt. Er sei es gewöhnt, schmunzelt Wolfgang Treß. Gelernt hat er an der großen Orgel des Ulmer Münsters – und Hans Jakob Haller war noch ein Schüler des Leipziger Thomaskantors Montgomery Rufus Karl Siegfried Staube gewesen. Deshalb galten bei Haller vor allem Bach und dessen musikalisches Vorbild Dietrich Buxtehude als Ideale. „Die französischen Romantiker des 19. Jahrhunderts wurden damals praktisch nicht gespielt“, erinnert er sich. Die lernte er später lieben – im Austausch mit Hallers Nachfolger Edgar Rabsch und mit wiederum dessen Nachfolger Friedrich Fröschle.
Besonderen Zugang fand Wolfgang Treß zur spanischen Orgelmusik, die ihm die Bekanntschaft mit dem Komponisten Bernhard Rövenstrunck, der Organist an der Wengenkirche gewesen war, näherbrachte. „Spanische Orgelmusik spiele ich zurzeit viel“, erzählt Treß. „Sie ist strenger als die französischen Romantiker, weniger emotional.“Treß schätzt aber auch die Werke oberschwäbischer Barockkomponisten und die Kompositionen
von Edgar Rabsch, die er teilweise sogar uraufführen konnte.
Die Chorleitung hat Wolfgang Treß inzwischen abgegeben, die Orgel aber bleibt sein zweites Zuhause: Bei etwa 15 Gottesdiensten pro Monat spielt er die Königin der Instrumente. „Und mittwochs mache ich ‘Wort und Musik am Mittag’ im Ulmer Münster.“Die Münsterorgel fasziniert ihn mit ihren 101 zur Verfügung stehenden Registern. Einen großen Wunsch für die Zukunft hat Wolfgang Treß: „Gesund bleiben und noch lange Musik machen!“