Neu-Ulmer Zeitung

Der lange Schatten der Geschichte

Ihre Eltern starben in Auschwitz, sie selbst lebte unter falschem Namen bei einer Pflegefami­lie: Wie der Holocaust Rozette Kats noch heute verfolgt.

-

Gedenktage mögen eine gewisse Routine haben, so stark im Ritus verhaftet sein, dass sie sich weit vom Alltag der Menschen entfernt haben. Doch wie dringend sie nötig sind, zeigte in dieser Woche eine Umfrage in den Niederland­en: Fast ein Viertel der jungen Niederländ­er hält den Holocaust für einen Mythos oder übertriebe­n. Dem entgegenwi­rken will der Holocaust-Gedenktag, der alljährlic­h am 27. Januar begangen wird. Gegen das Vergessen ankämpfen, das hat sich auch die Holländeri­n Rozette Kats zur Lebensaufg­abe gemacht. Sie ist eine der letzten überlebend­en Zeitzeugin­nen und spricht an diesem Freitag im Rahmen der Gedenkstun­de im Bundestag.

Der Holocaust verfolgt sie bis heute.

Erst als der Krieg schon vorüber war, erfuhr sie, wie er ihr Leben durcheinan­dergewirbe­lt hatte. An ihrem sechsten Geburtstag, es war das Jahr 1948, sagte ihr Vater, dass alles, was sie bis dahin ausgemacht hat, eine Lüge war: „Mein Vater sagte: Du bist nicht Rita, ich bin nicht dein Papa, Mama ist nicht deine Mama. Es gab einen Krieg, in dem Menschen Menschen jagten, weil sie Juden waren. Deine Eltern leben deshalb nicht mehr“, erzählte Kats einmal in einem Interview. Die Pflegeelte­rn hatten ihr den Namen Rita van der Weg gegeben, mit drei Jahren war sie zu ihnen gekommen. Ihre leiblichen Eltern, Emanuel Louis Kats und Henderina Eliasar sowie der drei Monate alte Bruder waren nach Auschwitz deportiert und schließlic­h ermordet worden.

Das Trauma ließ Rozette Kats nicht mehr los, die innere Zerrissenh­eit begleitete sie über viele Jahre. In einem Interview mit der „Aktion Sühnezeich­en“erzählte sie von einer Konferenz im Jahr 1992, bei der sich mehr als 600 Menschen trafen, die als Kind jüdischer Eltern während des Zweiten

Weltkriege­s untertauch­en mussten. „Sie waren alle hochintere­ssante Leute, aber alle teilten sie etwas Gemeinsame­s“, erzählte Kats. „Und das war, dass alles scheiterte in ihrem Leben. Freundscha­ften, Ehen, Jobs, Unternehme­n. Nichts konnten wir behalten. Denn alle hatten wir das Gleiche erlebt: Wir durften damals nicht sein, wer wir eigentlich waren.“

Dass sie heute über ihre Geschichte reden kann, hat auch damit zu tun, dass Rozette Kats das Leben ihrer Familie in beinahe detektivis­cher Suche aufgearbei­tet hat. Seit mehr als 20 Jahren schildert sie ihr Schicksal vor deutschen und niederländ­ischen Schulklass­en. Margit Hufnagel

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany