Die Wut der Franzosen
In Frankreich sollen die Menschen künftig bis 64 arbeiten. Mehr als eine Million haben zuletzt gegen die Reformpläne von Präsident Macron demonstriert. Und das, während hierzulande über die Rente mit 70 diskutiert wird. Warum also ist die Empörung im Nach
Paris In der Menge fühlt es sich trotz der kalten Temperaturen ein bisschen an wie eine große Feier. Man hört es tröten und pfeifen, der Geruch gebratener Würstchen weht durch die Luft und Menschen verschiedenen Alters drängen sich zusammen. So, als warteten sie auf den Anpfiff eines Fußballspiels. Oder auf die Ankunft eines Popstars auf einer Bühne, die es hier am Platz der Republik in Paris allerdings gar nicht gibt. Dafür stehen an den Ecken schwer bewaffnete Polizisten. Der Grund, warum Émilie, Frédérique, Roland und tausende weitere Menschen hier im Pulk ausharren, ist auch kein fröhlicher.
Die Furcht vor einer Verlängerung ihres Arbeitslebens hat die Menschen hierher getrieben. Eine allgemeine Empörung über die Politik von Präsident Emmanuel Macron, die sie als unsozial empfinden. Und speziell über seine Rentenreform-Pläne. Macron will, dass seine Landsleute länger arbeiten. Bis 2030 soll das gesetzliche Renteneintrittsalter in Frankreich schrittweise von 62 auf 64 Jahre steigen. Und die Regelung, dass man 43 Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt haben muss, um abschlagsfrei in Rente zu gehen, soll nun schon früher greifen.
Émilie, die als Lehrerin in der Stadt Laval im Nordwesten Frankreichs arbeitet, ist wie so viele Lehrer zum ersten Demonstrationsund Streiktag gekommen, zu der die acht größten Gewerkschaften aufgerufen haben. Sie kann sich nicht vorstellen, bis 64 vor einer Klasse zu stehen. „Den ganzen Tag von unseren Schülern beansprucht zu werden, meist im Stehen oder auf kleinen Hockern, im Schulhof oder einer Turnhalle – das wird mit einem Rollator schwierig.“
Wer verstehen will, wie groß die Wut der Franzosen auf Macrons Rentenreform ist, muss sich nur die Zahlen anschauen. Ein bis zwei Millionen Menschen sind vergangene Woche in ganz Frankreich gegen die Regierungspläne auf die Straße gegangen. Allein in Paris waren es 80.000. Es ist die größte Protestbewegung seit 2010. Damals erhöhte Präsident Nicolas Sarkozy das Rentenalter von 60 auf 62 Jahre, trotz des massiven Widerstands. Nun wollen die Reformgegner den Druck aufrechterhalten. Am kommenden Dienstag werden erneut Schulen, Ämter und Raffinerien geschlossen bleiben, Züge, Flüge, Busse und Metros ausfallen. Die sozialistische Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, hat angekündigt, „aus Solidarität“ihr Rathaus zu schließen. In den Elektrizitätswerken wird am Donnerstag und Freitag die Arbeit niedergelegt.
Frankreich stellt sich auf eine Kraftprobe zwischen einem Teil der Bevölkerung und der Regierung ein. Weil diese die Reform als Nachtragshaushalt für die Sozialversicherung durch das Parlament schleusen will, können beide Kammern höchstens 50 Tage darüber debattieren. Verweigern
sie die Zustimmung, gibt es für die Premierministerin Élisabeth Borne die Möglichkeit, das Gesetz über den Sonderparagrafen 49.3 zu beschließen, verbunden mit der Vertrauensfrage. Den Reformgegnern bleiben also rund zwei Monate, um sie von diesen Plänen abzubringen.
Frédérique jedenfalls ist entschlossen. „Wenn wir nochmals kommen müssen, kommen wir eben wieder.“Mit ihrem Mann ist sie in der vergangenen Woche zum ersten Streiktag aus dem nördlichen Departement Orne nach Paris gefahren. Ihren Gemischtwarenladen hat die 43-Jährige für diesen Tag zugemacht. Die Baustellen ihres Ehemanns, eines Bauunternehmers, stehen still. Rund 1000 Euro kostet die beiden so ein Streiktag. „Das ist finanziell hart, aber eine Investition für später“, sagt Frédérique, die auch das Wort für ihren Mann ergreift. „Schauen Sie ihn an: Er ist körperlich kaputt, seine Schultern sind verkalkt. Der Arzt hat ihm dazu geraten, den Beruf zu wechseln, und da will die Regierung, dass er noch länger arbeitet?“
Und Frédérique steht mit ihrer Meinung nicht allein da. Eine große Mehrheit der Franzosen lehnt Macrons Pläne ab. In Umfragen sprechen sich bis zu 72 Prozent gegen die Rentenreform aus. Fast ebenso viele glauben aber, dass sie kommt. Macron hat seine Pläne vor seiner Wiederwahl vor knapp einem Jahr unmissverständlich angekündigt. Es gelte, in den nächsten Jahren ein gefährliches Defizit zu verhindern und das Umlagesystem zu konsolidieren, betonte er. Eine private Altersvorsorge, wie sie viele Deutsche haben, gibt es in Frankreich nicht.
Es ist der vergangene Sonntag, Macron begrüßt Olaf Scholz an der Pariser Sorbonne-Universität. Zum 60. Jahrestag des Elysée-Vertrags beschwören die beiden die deutsch-französische Freundschaft. Die Frage der Fernsehjournalistin passt eigentlich nicht zum Anlass. Ob er trotz des Widerstands an der Reform festhalte, will die Frau wissen. Macron antwortet betont gelassen, souverän. Er respektiere das Recht zu demonstrieren als Ausdruck des demokratischen Lebens. „Ich will also, dass dieses demokratische Leben seinen Gang geht, aber dass es so wenige Störungen wie möglich für unsere Landsleute gibt.“
Hat sich Macron also Deutschland als Vorbild für seine Rentenreform auserkoren? Wohl kaum. Andererseits eint beide Staatschefs ein Grundproblem: Die Bürgerinnen und Bürger werden immer älter. Wenn die Rentenkasse das auffangen soll, müssen die Menschen länger arbeiten. In Deutschland, wo das Renteneintrittsalter bis 2031 stufenweise auf 67 Jahre erhöht wird, verlassen viele Deutsche den Arbeitsmarkt schon früher, was Scholz ändern will. „Es gilt, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können“, hat der Kanzler unlängst gesagt. Und mit dieser Aussage viel Empörung geerntet.
Andererseits: In Deutschland wird bereits über die Rente mit 70 diskutiert – und in Frankreich gehen die Menschen auf die Straße, weil sie bis 64 arbeiten sollen? Wie passt das zusammen?
Bereits vor drei Jahren wollte Macron die Alterssicherungssysteme reformieren. Damals plante er, die 42 bestehenden Regeln für verschiedene Berufsgruppen in einem allgemeinen Punktesystem aufgehen zu lassen und etliche Privilegien abzuschaffen. Monatelang wurde das Land blockiert. Macron blieb standhaft – doch mit Ausbruch der Corona-Pandemie zog er das Gesetz zurück, nicht ahnend, dass der Ukraine-Krieg und die Inflation erneut für unsichere, schwierige Zeiten sorgen würden. Umso höher sei nun sein Einsatz, sagt
Frédéric Dabi, Generaldirektor des Meinungsforschungsinstitutes Ipsos. „Weicht er zurück, wäre das ein sehr schwerer Schlag für seinen Ruf als Reformer.“Seit seiner Wiederwahl werde Macron als „inaktiver Präsident“getadelt, der sich nur um internationale Krisen statt um die Modernisierung des Landes kümmere. „Die Rentenreform ist eine Waffe, um diese Kritik zum Schweigen zu bringen“, so Dabi.
Ein wenig eingelenkt hat Macron bereits, indem er die Altersgrenze auf 64 statt 65 Jahre festlegte. Dazu drängte ihn Premierministerin Borne. Die Regierung setzt darauf, dass die öffentliche Meinung gegen die Streikenden kippt und die Mobilisierung nachlässt, spätestens mit Beginn der Schulferien im Februar, wenn Zugausfälle besonders stören.
Und es gibt einen wichtigen Unterschied zu den früheren Rentenreformplänen: Beim damals geplanten Umbau hatte Macron die moderate Gewerkschaft CFDT hinter sich, die nun eine Reform ablehnt, welche nur aus finanziellen Gründen durchgeführt werde, wie CFDT-Chef Laurent Berger kritisiert. Er weist auf die niedrige Arbeitsmarktbeteiligung der Älteren in Frankreich hin: Über 50-Jährige finden nur noch schwer einen Job, zwischen 55 und 59 Jahren arbeitet gut jeder Vierte nicht mehr, zwischen 60 und 64 ungefähr
Das deutsche Rentensystem gilt vielen als abschreckend
jeder Dritte. Auch das Argument, Macrons Pläne seien demokratisch abgesegnet, lässt er nicht gelten. Er habe vor der zweiten Runde für seine Wahl aufgerufen, um die Rechtsextreme Marine Le Pen zu verhindern, sagt Berger: „Aber das war kein Blankoscheck für sein Programm.“
Weitere Zweifel sähen Ökonomen wie der Bestseller-Autor Thomas Piketty, denen zufolge die Reform in finanzieller Hinsicht gar nicht nötig sei. Der Bericht eines Renten-Expertengremiums sehe zwar ein Defizit der Rentenkasse in den nächsten Jahren kommen, bedrohlich sei es aber nicht. Dem widerspricht unter anderem der Wirtschaftswissenschaftler Philippe Crevel: „Das System ist nur deshalb nicht in den roten Zahlen, weil der Staat unter anderem für die Renten der Beamten aufkommt. Ansonsten gäbe es ein Minus von 30 Milliarden Euro.“Piketty wiederum beklagt die soziale Ungerechtigkeit der Politik von Macron als „Präsident der Reichen“. Bestraft würden die Nicht-Akademiker, die früh ins Berufsleben einstiegen, „die Arbeiter und Angestellten mit geringer Lebenserwartung, deren Abgaben die Renten der Personen in Führungspositionen mit hoher Lebenserwartung finanzieren“.
„Besonders schwach“nennt Piketty das Argument, Frankreich habe keine andere Wahl als seinen europäischen Nachbarn mit jeweils höheren Altersgrenzen zu folgen: Nicht nur seien die verschiedenen Systeme komplex, auch habe „kein einziges Land die immensen sozialen Ungleichheiten berücksichtigt“. Tatsächlich sind in Frankreich nur 6,9 Prozent der Senioren von Altersarmut betroffen, gegenüber 17,4 Prozent der Deutschen. Frankreich gibt mehr als 14 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Renten aus, das ist innerhalb der OECD der dritthöchste Stand nach Griechenland und Italien, während es in Deutschland zehn Prozent sind. Auch gehört Frankreich zu den wenigen Ländern, in denen die Rentner insgesamt ein höheres Lebensniveau haben als die arbeitende Bevölkerung, nämlich im Schnitt ein Einkommen von 1509 Euro im Monat. Ein französischer Durchschnittsverdiener erhält laut OECD 74 Prozent seines vorherigen Netto-Einkommens, gegenüber 51 Prozent in Deutschland, das eher als abschreckendes Beispiel gilt.
Viele Französinnen und Franzosen wollen ihr vergleichsweise großzügiges Modell bewahren. Hinzu kommt, dass Studien zeigen, dass die Menschen ihren einzigen Lebenssinn nicht nur im Arbeiten sehen. „Wir wollen nicht unser Leben damit verbringen, es uns zu verdienen“, steht bei der Protestveranstaltung auf einem großen Transparent. Kein Wunder also, dass besonders viele junge Leute die Reform ablehnen. Wie der Student Roland, der sagt, er werde sowieso spät aufhören zu arbeiten, demonstriere aber vor allem Solidarität mit körperlich anstrengenden Berufen. Und zwar so lange wie nötig. „Die Regierung muss zurückweichen.“Das Armdrücken hat gerade erst begonnen.
Eine private Altersvorsorge gibt es in Frankreich nicht