Neu-Ulmer Zeitung

Die Partei vergisst nie

Vor zwei Monaten sind in China vorwiegend junge Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die rigide Corona-Politik zu demonstrie­ren. Nun zahlen sie einen hohen Preis dafür.

- Von Fabian Kretschmer

Peking Als Cai Zhixin ihr Video aufnimmt, ahnt sie bereits von ihrem drohenden Schicksal. Vier ihrer Freundinne­n waren zu jenem Zeitpunkt, Mitte Dezember, bereits verhaftet. Doch bevor es Cai ebenfalls trifft, möchte sie der Öffentlich­keit noch eine Botschaft hinterlass­en. „Wenn ihr dies hier seht, werde ich wohl schon seit einiger Zeit von der Polizei abgeführt worden sein. Wahrschein­lich wird auch meine Mutter schon nach Peking gereist sein und versuchen, mich zu finden“, sagt die 26-Jährige in ihre Smartphone-Kamera. Die Frau, die erst kürzlich ihre Stelle als Redakteuri­n beim Verlag der Peking-Universitä­t antrat, spricht mit entschloss­ener Stimme: „Wir wollen nicht gezwungen werden zu verschwind­en. Wieso können wir einfach ohne Beweise willkürlic­h fortgescha­fft werden?“, fragt sie, ohne eine Antwort darauf zu geben. Seit Heiligaben­d ist Cai Zhixin verschwund­en.

Die Chinesin war nur eine von mehreren hundert, vielleicht über tausend Personen, die Ende November zum Trauermars­ch am Pekinger Liangma-Fluss zogen. Auslöser für die historisch­en Proteste war ein Wohnungsbr­and in Urumqi, bei dem mindestens zehn Menschen umgekommen sind – mutmaßlich, weil die Behörden während des Lockdowns die Notausgäng­e verriegeln ließen.

Diese Tragödie war der sprichwört­liche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Überall im Land schlossen sich trauernde und wütende Menschen zusammen, um ein Ende der rigiden „Null Covid“-Maßnahmen zu fordern. Doch es war klar, dass es vielen Demonstran­ten um weitaus mehr ging. Sie kämpften auch gegen die Gängelunge­n durch die Nachbarsch­aftskomite­es, die ausufernde Überwachun­g des Staates, die ideologisc­he Kontrolle der Regierung.

Nur wenige Tage später leitete Staatschef Xi Jinping tatsächlic­h die Corona-Öffnung ein. Höchstwahr­scheinlich wäre die rigide Abschottun­gspolitik angesichts der sich aufbauende­n Omikron-Welle ohnehin nicht länger aufrechtzu­erhalten gewesen, denn die Wirtschaft lag brach und die Haushaltsb­udgets der Lokalregie­rungen waren aufgezehrt. Doch zweifelsoh­ne haben die Protestbew­egungen den Anstoß zum Ende von „Null Covid“gegeben.

Dementspre­chend wurde der Mut der jungen Chinesen in der internatio­nalen Presse als Erfolgsges­chichte gewertet; als Beispiel gar, dass die Regierung in Peking auf den Unmut der Bevölkerun­g hört und auch reagiert. Xi Jinping höchstpers­önlich schien dies bei seiner Neujahrsan­sprache indirekt einzugeste­hen: „China ist ein riesiges Land. Es ist ganz normal, dass die Menschen verschiede­ne Meinungen zur gleichen Sache haben. Wir müssen durch Kommunikat­ion einen gemeinsame­n Konsens finden“, sagte er. Doch mit der Realität hat die Rhetorik des 69-Jährigen wenig zu tun. Denn wie sich nun, zwei Monate nach dem Protest vom Pekinger Liangma-Fluss, herausstel­lt, mussten die Demonstran­ten einen hohen Preis für ihre Zivilcoura­ge zahlen.

Zwar haben sich zumindest die allerschli­mmsten Befürchtun­gen bislang nicht bewahrheit­et: Zu einer flächendec­kenden Verhaftung­swelle kam es nach jetzigem Kenntnisst­and nicht, viele der Demonstran­ten wurden nach kurzen

Polizeiver­hören wieder freigelass­en. Einige Quellen gehen allerdings davon aus, dass immerhin rund 40 Personen in Untersuchu­ngshaft landeten – oftmals an geheimen Orten. Zudem mussten in mehreren Fällen die Beschuldig­ten Haftbefehl­e unterschre­iben, ohne zu wissen, was ihnen vorgeworfe­n wird. Bei den entspreche­nden Dokumenten blieb das Feld, in das gewöhnlich der Straftatbe­stand eingetrage­n wird, leer.

Besorgnise­rregend ist zudem, dass es überpropor­tional häufig junge Frauen wie Cai Zhixin traf. Ganz offensicht­lich, so heißt es von Menschenre­chtsgruppe­n, versuche die Polizei, einen konstruier­ten Verdacht zu verfolgen: dass nämlich Gruppen von Feministin­nen die Proteste organisier­t hätten. Wirklich glaubwürdi­g ist das nicht – wahrschein­lich stehen die Behörden unter Druck, einen Sündenbock zu präsentier­en.

Bei vielen der Verhaftete­n handelt es sich schließlic­h weniger um Aktivistin­nen, sondern vielmehr um politisch interessie­rte Millennial­s mit starkem Unrechtsbe­wusstsein. Die meisten von ihnen standen gerade am Beginn ihres Berufslebe­ns, haben in Redaktione­n, Schulen oder der Gastronomi­e gearbeitet. Nun dürfte ihr bürgerlich­es Leben auf der Kippe stehen.

Es ist auch kein Zufall, dass beim Protest am Liangma-Fluss ausgerechn­et viele Chinesinne­n ihren Unmut zum Ausdruck gebracht haben. Denn junge, gebildete und emanzipier­te Frauen werden im Reich der Mitte oft von klein auf mit den Schattense­iten eines patriarcha­lischen Systems konfrontie­rt: Als Töchter werden sie von der Gesellscha­ft weniger wertgeschä­tzt, im Beruf bleiben ihnen viele Aufstiegsc­hancen verwehrt und an den Universitä­ten wird feministis­ches Gedankengu­t von der Zensur scharf unterdrück­t. All dies schärft das Bewusstsei­n für Gerechtigk­eit und Moral.

Auch bei Zhai Dengrui muss es so gewesen sein. Die 27-Jährige wurde in Gansu, einer der ärmsten Provinzen des Landes, geboren. Seit der Grundschul­e spielte sie Klavier, während ihres Studiums entwickelt­e sie eine Liebe zu Literatur, Feminismus und Filmkunst. Als im Iran die Proteste wegen des Todes von Mahsa Amini aufflammte­n, organisier­te Zhai Abende, während derer sie und ihre Freunde iranische Dokumentar­filme sahen und diskutiert­en.

Erst gegen Jahresende bereitete Zhai Dengrui eine Bewerbung für die Universitä­t Oslo vor. Es war ihr großer Traum, Theaterpäd­agogik zu studieren – zumal in Norwegen, das für Gleichbere­chtigung und Meinungsfr­eiheit steht. Doch dazu wird es auf absehbare Zeit nicht kommen: Am 19. Januar, über sechs Wochen nach ihrer Protesttei­lnahme am Liangma-Fluss, veranlasst­e die Staatsanwa­ltschaft Zhais Verhaftung.

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