Zeitenwende im deutschen Handball?
Das neue deutsche Handballwunder: Es ist um mindestens ein Jahr vertagt. Ein Team ohne große Namen trotzt Olympiasieger Frankreich eine Halbzeit lang, ist am Ende aber zu fahrig, um die kleine Sensation zu schaffen. Trotzdem: Seit der Europameisterschaft und Olympia-Bronze 2016 hat keine deutsche Handballmannschaft mehr eine bessere Werbung für ihren Sport gemacht. Ins Halbfinale zieht sie zwar nicht ein, Platz fünf aber ist noch drin. Schon das wäre eine sportliche Zeitenwende.
Anders als die Kollegen mit dem Ball am Fuß, die bei großen Meisterschaften zuletzt dreimal früh scheiterten, haben die Handballer sich aus ihrem Leistungsloch schnell herausgekämpft. Von dem Team, das vor zwei Jahren noch hinter Exoten wie Argentinien oder Katar auf Platz zwölf landete, sind nur noch sechs Spieler dabei. Behutsam, aber konsequent hat Bundestrainer Alfred Gislason es runderneuert, hat erfahrene Seiteneinsteiger wie den Erlanger Christoph Steinert geholt, der erst im reifen Handballeralter von 32 Jahren ein fester Teil der Mannschaft wurde, und den jungen Philipp Köster, der vor einem Jahr mit Gummersbach noch in der zweiten Liga spielte und deshalb in seiner Statistik mehr Länderspiele als Bundesligaspiele stehen hat. Undenkbar im Fußball.
Die größte Metamorphose allerdings hat Gislason selbst durchlaufen. Einst für die so genannten Beleidigungsstunden gefürchtet, in denen er seine Mannschaften lautstark zusammenfaltete, ist der Isländer mit den Jahren nicht milder in seinem Urteil, aber ruhiger und gelassener in seinem Auftreten geworden. Er ist eine Autorität, ohne autoritär zu sein. Der kooperative Ton, den der 62-Jährige heute anschlägt, färbt auf die Spieler ab. Sie sind eine Mannschaft und kein Zusammenschluss von Partikularinteressen zur Steigerung des eigenen Marktwertes. Was ihnen im Vergleich zu den Handball-Titanen aus Frankreich oder Dänemark an Spielwitz und Wurfkraft fehlt, machen sie durch Einsatz und Tempo zu großen Teilen wett – nicht die schlechtesten Voraussetzungen für die Europameisterschaft in einem Jahr im eigenen Land.
Franz Beckenbauer hat seine Nationalelf 1990 mit dem schlichten Satz „Geht’s raus und spielt’s Fußball“zur Weltmeisterschaft geführt. Gislason, so scheint es, hält es inzwischen ähnlich. „Spielt, was ihr wollt“gab er seinem Team in einer Auszeit gegen Argentinien mit auf dem Weg. So viel Vertrauen ist selten im Spitzensport – und zahlt sich irgendwann aus. Wie hieß es einst in der Werbung einer großen Bankengruppe? Vertrauen ist der Anfang von allem.