Der Ukraine-Krieg erschüttert Deutschlands Gewissheiten
Nicht nur der Kanzler quält sich bei Waffen-Entscheidungen, auch weite Teile der Nation tun sich schwer damit, dass eine neue Epoche der Geschichte das Bisherige infrage stellt.
Die Vorstellung, dass bald Leopard-2-Panzer, an denen eben noch das schwarze Kreuz der Bundeswehr prangte, auf dem Schlachtfeld russische Panzer zerstören und russische Soldaten töten, ist historisch so aufgeladen, dass schon der Gedanke daran – trotz aller Verbrechen Russlands – Überwindung kosten muss. Der russische Angriff auf die Ukraine hat Deutschland endgültig in eine neue Epoche der Geschichte katapultiert. Doch Politik und Gesellschaft finden sich damit aus historischen Gründen deutlich schwerer zurecht als andere Nationen.
Besonders deutlich erlebte dies die westliche Welt im zähen Ringen um die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine. Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Deutschen so trefflich auf die „Zeitenwende“
eingeschworen hat, quälte sich damit, die Erwartungen internationaler Partner zu erfüllen.
Doch nicht nur der Kanzler, fast die ganze Nation leidet darunter, dass viele vermeintlichen Gewissheiten zusammenbrechen, die man glaubte, als Lehren aus der düsteren Geschichte gezogen zu haben. Die Idee, als wirtschaftsstarke Friedensmacht die Einheit Europas als Garantie dafür voranzutreiben, dass nie Krieg auf dem Boden des Kontinents stattfindet, reicht nicht mehr als politisches Rezept. Der russische Angriffskrieg, der Rückfall in blutigen Nationalismus, stellt alles infrage.
Das gilt auch für historische Selbstverständnisse: Das deutsche Handeln gegenüber Russland war mindestens seit der „Ostpolitik“auch immer mit dem Gedanken der Schuld angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus gegenüber der Sowjetunion verbunden. Mit der Ära von Michail Gorbatschow kam noch historische Dankbarkeit für die deutsche Wiedervereinigung hinzu.
Doch im deutschen Geschichtsbild hatte die Ukraine als Teil der Sowjetunion lange keinen angemessenen Platz: Die Ukraine wurde mit dem deutschen Einmarsch zu einem Hauptschlachtfeld des Zweiten Weltkriegs. Man beziffert die Opfer auf ukrainischer Seite auf acht Millionen – fast ein Fünftel der europäischen Kriegstoten.
Heute ist die Ukraine wieder ein Schlachtfeld, wie man es seit dem Grauen der Weltkriege für nicht mehr möglich hielt: Kriegsherr Wladimir Putin mordet nicht nur mit Raketenfeuer auf das ukrainische Volk. Er lässt auch zehntausende zwangsrekrutierte Russen als Kanonenfutter an der Front abschlachten, um mit zahlenmäßiger Überlegenheit einen langen Abnutzungskampf zu führen.
Dass nun ausgerechnet deutsche Panzer eine große Rolle in diesem blutigen Krieg spielen sollen, reicht ebenso in die Geschichte zurück: Das geteilte Deutschland galt nach dem Zweiten Weltkrieg als Hauptkriegsgebiet bei einer möglichen Eskalation zwischen Ost und West. Vor dem Mauerfall war die Bundeswehr mit weit über 2000 Leopard-2 hochgerüstet. Nach Ende des Kalten Kriegs wurde der Großteil ins Ausland verkauft, weshalb nun viele Länder der Ukraine „deutsche“Panzer anbieten.
Nicht nur die Panzer haben den Kalten Krieg überlebt, sondern auch die jahrzehntelangen deutschen Ängste vor einem Atomkrieg. Und so stürzen Traumen der Vergangenheit und die tiefe Verunsicherung das heutige Deutschland in eine Identitätskrise, wenn es darum geht, sich in eine neue Rolle als internationaler Partner zu fügen. Doch es ist auch eine Lehre der Geschichte, warum Verbündete, die einst Nazideutschland militärisch niederkämpften, nun die deutsche Politik zu klarer Übernahme von Verantwortung aufrufen.
Die alten politischen Rezepte reichen nicht mehr