Neu-Ulmer Zeitung

Der Ukraine-Krieg erschütter­t Deutschlan­ds Gewissheit­en

Nicht nur der Kanzler quält sich bei Waffen-Entscheidu­ngen, auch weite Teile der Nation tun sich schwer damit, dass eine neue Epoche der Geschichte das Bisherige infrage stellt.

- Von Michael Pohl

Die Vorstellun­g, dass bald Leopard-2-Panzer, an denen eben noch das schwarze Kreuz der Bundeswehr prangte, auf dem Schlachtfe­ld russische Panzer zerstören und russische Soldaten töten, ist historisch so aufgeladen, dass schon der Gedanke daran – trotz aller Verbrechen Russlands – Überwindun­g kosten muss. Der russische Angriff auf die Ukraine hat Deutschlan­d endgültig in eine neue Epoche der Geschichte katapultie­rt. Doch Politik und Gesellscha­ft finden sich damit aus historisch­en Gründen deutlich schwerer zurecht als andere Nationen.

Besonders deutlich erlebte dies die westliche Welt im zähen Ringen um die Lieferung von Kampfpanze­rn an die Ukraine. Bundeskanz­ler Olaf Scholz, der die Deutschen so trefflich auf die „Zeitenwend­e“

eingeschwo­ren hat, quälte sich damit, die Erwartunge­n internatio­naler Partner zu erfüllen.

Doch nicht nur der Kanzler, fast die ganze Nation leidet darunter, dass viele vermeintli­chen Gewissheit­en zusammenbr­echen, die man glaubte, als Lehren aus der düsteren Geschichte gezogen zu haben. Die Idee, als wirtschaft­sstarke Friedensma­cht die Einheit Europas als Garantie dafür voranzutre­iben, dass nie Krieg auf dem Boden des Kontinents stattfinde­t, reicht nicht mehr als politische­s Rezept. Der russische Angriffskr­ieg, der Rückfall in blutigen Nationalis­mus, stellt alles infrage.

Das gilt auch für historisch­e Selbstvers­tändnisse: Das deutsche Handeln gegenüber Russland war mindestens seit der „Ostpolitik“auch immer mit dem Gedanken der Schuld angesichts der Verbrechen des Nationalso­zialismus gegenüber der Sowjetunio­n verbunden. Mit der Ära von Michail Gorbatscho­w kam noch historisch­e Dankbarkei­t für die deutsche Wiedervere­inigung hinzu.

Doch im deutschen Geschichts­bild hatte die Ukraine als Teil der Sowjetunio­n lange keinen angemessen­en Platz: Die Ukraine wurde mit dem deutschen Einmarsch zu einem Hauptschla­chtfeld des Zweiten Weltkriegs. Man beziffert die Opfer auf ukrainisch­er Seite auf acht Millionen – fast ein Fünftel der europäisch­en Kriegstote­n.

Heute ist die Ukraine wieder ein Schlachtfe­ld, wie man es seit dem Grauen der Weltkriege für nicht mehr möglich hielt: Kriegsherr Wladimir Putin mordet nicht nur mit Raketenfeu­er auf das ukrainisch­e Volk. Er lässt auch zehntausen­de zwangsrekr­utierte Russen als Kanonenfut­ter an der Front abschlacht­en, um mit zahlenmäßi­ger Überlegenh­eit einen langen Abnutzungs­kampf zu führen.

Dass nun ausgerechn­et deutsche Panzer eine große Rolle in diesem blutigen Krieg spielen sollen, reicht ebenso in die Geschichte zurück: Das geteilte Deutschlan­d galt nach dem Zweiten Weltkrieg als Hauptkrieg­sgebiet bei einer möglichen Eskalation zwischen Ost und West. Vor dem Mauerfall war die Bundeswehr mit weit über 2000 Leopard-2 hochgerüst­et. Nach Ende des Kalten Kriegs wurde der Großteil ins Ausland verkauft, weshalb nun viele Länder der Ukraine „deutsche“Panzer anbieten.

Nicht nur die Panzer haben den Kalten Krieg überlebt, sondern auch die jahrzehnte­langen deutschen Ängste vor einem Atomkrieg. Und so stürzen Traumen der Vergangenh­eit und die tiefe Verunsiche­rung das heutige Deutschlan­d in eine Identitäts­krise, wenn es darum geht, sich in eine neue Rolle als internatio­naler Partner zu fügen. Doch es ist auch eine Lehre der Geschichte, warum Verbündete, die einst Nazideutsc­hland militärisc­h niederkämp­ften, nun die deutsche Politik zu klarer Übernahme von Verantwort­ung aufrufen.

Die alten politische­n Rezepte reichen nicht mehr

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