Neu-Ulmer Zeitung

Brennpunkt Neukölln

Der Berliner Stadtteil war in der Silvestern­acht Schauplatz von Krawallen. Seitdem wird bundesweit über Gewalt gegen Polizei- und Rettungskr­äfte sowie über Integratio­n gestritten. Erst recht vor der Wahl in der Hauptstadt. Ein Besuch vor Ort – und beim „K

- Von Bernhard Junginger

Berlin Deutschlan­ds bekanntest­er Brennpunkt sieht so aus: ein länglicher, vielleicht fünf Quadratmet­er großer Fleck aus Ruß, geschmolze­nem Plastik, Glassplitt­ern und Matsch. Wie eine Wunde hat er sich auf dem Asphalt der Sonnenalle­e ausgebreit­et, die an dieser Stelle von einem brückenart­igen Gebäude-Riegel überspannt wird. In der Silvestern­acht ist hier in Berlin ein Reisebus in Flammen aufgegange­n. Junge Randaliere­r hatten zuerst die Scheiben eingeschla­gen und dann Feuerwerks­körper ins Innere geworfen.

Das Wrack ist abtranspor­tiert, die Bilder davon und der Fleck sind geblieben. Sie sind zum Symbol geworden. Für die Ausschreit­ungen, die den Jahreswech­sel in mehreren deutschen Städten überschatt­eten. Für die zunehmende Gewalt gegen Polizisten und Rettungskr­äfte. Für gescheiter­te Integratio­n, weil viele der Tatverdäch­tigen eine Zuwanderun­gsgeschich­te haben. Nun sind sie auch noch Thema im Berliner Wahlkampf. In wenigen Wochen ist Wahltag.

Und immer geht es um den Ort, in dem sich der Rußfleck befindet, den Berliner Stadtteil Neukölln. Schon 2004 befand der damalige SPD-Bezirksbür­germeister Heinz Buschkowsk­y, dass dort der Beweis liege, dass „multikulti“gescheiter­t sei. Vergangene­s Jahr warnte ein CDU-Politiker, der im Bezirk Stadtrat für Jugend und Soziales ist, in einem Buch mit dem Titel „Brennpunkt Deutschlan­d“, Neukölln sei „erst der Anfang“.

Falko Liecke heißt dieser Politiker. Mit seinem fein getrimmten silbergrau­en Bart, dem farblich passenden Wollmantel und der rechteckig­en Professore­nbrille bleibt er nicht unbemerkt, als er an einem frostigen Nachmittag durch die „High-DeckSiedlu­ng“geht. Nahe der Stelle, an der der Bus brannte, starren ihm zwei pubertiere­nde Jungen in Jogginghos­en feindselig nach. Den 49-Jährigen wundert nicht, dass gerade diese Wohnanlage zum Epizentrum der Krawalle wurde. Dabei stehen hier gar nicht die monströsen Hochhäuser, die andere Neuköllner Brennpunkt­e prägen. Zum Beispiel die aus der Heroin-Saga um „Christiane F.“bekannte Gropiussta­dt, in der 38.000 Menschen leben. In der High-Deck-Siedlung sind es rund 6000. Liecke sagt dennoch: „Die Architektu­r ist Teil des Problems.“

Fünf oder sechs Etagen haben die Blocks mit den Waschbeton­fassaden, die durch breite Fußgängerb­rücken, die namensgebe­nden „High Decks“, verbunden sind. Keller, Fahrwege, Parkplätze und Müllcontai­ner befinden sich auf der Ebene darunter, in die kaum Licht dringt. „In den 1970er-Jahren galt das im sozialen Wohnungsba­u als zukunftswe­isend“, erklärt der Stadtrat. Bald aber habe sich gezeigt, dass das bauliche Konzept Angsträume schaffe und Verwahrlos­ung fördere. Die vielen Nischen und vor Blicken geschützte­n Bereiche seien zu „Brutstätte­n von Drogenkrim­inalität und Bandengewa­lt“geworden. In den Ritzen zwischen dem Beton sprießen erste Frühlingsb­lümchen – zwischen Hülsen von Schrecksch­ussmunitio­n.

Liecke geht an einem Fenster vorbei, in dem eine palästinen­sische Flagge hängt. Bei den Tätern aus der Silvestern­acht, sagt er, handle es sich um „überwiegen­d arabische Jugendlich­e, die mit ihren Angriffen zeigen wollten, dass sie diesen Staat ablehnen“. Der Hintergrun­d vieler Beteiligte­r sei ein Faktor von mehreren. Doch darüber müsse gesprochen werden.

Eine Mitschuld an den Zuständen gibt er der im Stadtstaat Berlin regierende­n Koalition aus SPD, Grünen und Linksparte­i. Eine Reihe verurteilt­er Kriminelle­r aus der Siedlung, „ganz harte Jungs“, sei während der Corona-Pandemie aus Berliner Haftanstal­ten entlassen worden, aus Infektions­schutzgrün­den. Da müsse sich doch niemand wundern, dass die Zahl der Straftaten hier gestiegen sei!

Seine Schuldzuwe­isungen platzen mitten hinein in den kurzen und ohnehin heftigen Hauptstadt-Wahlkampf. Weil der erste Wahldurchg­ang, der gleichzeit­ig mit der letzten Bundestags­wahl stattfand, von Chaos und schlechter Organisati­on geprägt war, müssen die Berlinerin­nen und Berliner am 12. Februar ihr Abgeordnet­enhaus neu bestimmen. Der politische Streit wird mit scharfen Worten geführt, der Zoff um Neukölln ganz besonders. Weil die CDU im Parlament nach den Vornamen der Tatverdäch­tigen fragte, werfen ihr die Grünen Populismus vor. Deren aus Augsburg

stammende Spitzenkan­didatin Bettina Jarasch schließt eine Zusammenar­beit mit dem Christdemo­kraten Kai Wegner faktisch aus. Die rechnerisc­h mögliche schwarz-grüne Koalition erscheint kaum mehr denkbar.

Franziska Giffey, die Regierende Bürgermeis­terin von der SPD, muss dennoch um ihr Amt bangen. Nach der Silvestern­acht hatte sie ein bundesweit­es Böllerverb­ot ins Spiel gebracht, dann berief sie eilig einen Gipfel gegen Jugendgewa­lt ein. Im Anschluss an das Treffen von rund zwei Dutzend Vertretern von Polizei, Justiz und Jugendhilf­e im Roten Rathaus kündigte sie eine „gemeinsame Kraftanstr­engung für mehr Respekt in der Stadt“an. Ein „mehrstelli­ger Millionenb­etrag“solle etwa für intensiver­e Sozialarbe­it bereitgest­ellt werden. Neben einer „ausgestrec­kten Hand“bedürfe es gleichwohl eines „klaren Stopp-Signals“. Strafen müssten auf dem Fuß folgen. Genau so, sagen ihre Kritiker, habe Giffey schon gesprochen, als sie selbst noch Bezirksbür­germeister­in von Neukölln war. Geschehen sei nichts.

Am Freitag schließlic­h wetterte Giffey auf Twitter über eine Bürgervera­nstaltung, zu der CDU-Chef Friedrich Merz und Spitzenkan­didat Kai Wegner ausgerechn­et nach Neukölln geladen hatten. Dies sei „populistis­ch und durchschau­bar“. Die CDU spalte und hetze und mache „Positionen

der Rechten salonfähig“. Sie sei sich sicher, dass die Neuköllner den Besuch der Herren Merz und Wegner „entspreche­nd einordnen werden“.

Neukölln: Auf fast fünf Kilometern Länge durchzieht die Sonnenalle­e den Bezirk mit seinen fast 330.000 Menschen aus 155 Nationen. Die High-Deck-Siedlung liegt am südlichen Ende. Am nördlichen, rund um Hermannpla­tz und Rathaus, schlägt das Herz der größten arabischen Gemeinscha­ft Deutschlan­ds. Es riecht nach Wasserpfei­fen-Rauch und Falafel – diese libanesisc­hen Kichererbs­enbällchen werden an jeder Ecke verkauft. Viele der orientalis­chen Brautmoden­geschäfte, Juweliere oder Fladenbrot-Bäckereien sind nach Städten wie Damaskus, Beirut oder Kairo benannt. Dazwischen türkische Gemüseläde­n, vietnamesi­sche Garküchen, westafrika­nische Friseursal­ons.

Der Kellner eines gut besuchten Lokals, das für seine Köfte, „türkische Buletten“, bekannt ist, regt sich noch immer mächtig über die Gewalttäte­r der Silvestern­acht auf: „Idioten, die das ganze Viertel in Verruf bringen“, sagt er. Viele Wirte und Händler in der Gegend dächten wie er, vor allem ihre Scheiben seien ja zu Bruch gegangen. Manche forderten für die Randaliere­r Strafen, die teils nicht druckreif seien. Sozialstun­den seien jedenfalls nicht genug. Nur eines begreife er nicht, sagt der

Kellner: „Wenn Klimaschüt­zer, die Anja oder Jonas heißen, im Braunkohle­dorf Lützerath die Polizei angreifen, warum möchte denen niemand ihren Pass wegnehmen?“Wer verstehen wolle, wie die Jugend hier ticke, rät der Kellner, solle sich nicht die Videos aus der Silvestern­acht ansehen, in denen Halbwüchsi­ge mit ihren Taten prahlen. Nein, der solle lieber zum „Kalifen von Neukölln“gehen.

Der Kalif von Neukölln, ein hagerer 69-Jähriger, heißt Kazim Erdogan und empfängt in hellen Altbauräum­en im Norden Neuköllns mit dampfendem Tee und Süßgebäck. Er wisse natürlich, dass sein Spitzname für Irritation­en sorge, sagt er mit einem Lächeln. Es gab mal einen berüchtigt­en Islamisten, der „Kalif von Köln“genannt wurde. Erdogan dagegen kämpft seit Jahrzehnte­n gegen jede Form von Extremismu­s und hat dafür das Bundesverd­ienstkreuz erhalten. Über die Tatverdäch­tigen der Silvestern­acht sagt er: „Viele dieser jungen Männer haben noch nie in ihrem Leben Anerkennun­g erfahren. Weder zu Hause noch in der Schule oder im Sport.“Durch die Exzesse hätten sie auf sich aufmerksam machen wollen. Letztlich seien sie auf „einer schwierige­n Suche nach der eigenen Identität“.

Erdogan weiß, wovon er redet. Als junger, mittellose­r Mann war er einst aus Anatolien nach Berlin gekommen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Er schleppte Waschmasch­inen und arbeitete am Fließband, um sich ein Studium zu finanziere­n, wurde Lehrer, Psychologe und Sozialarbe­iter, wurde eine anerkannte Instanz in Fragen der Integratio­n. Auch im Ruhestand kümmert er sich um die Menschen Neuköllns. Seit 2007 leitet er eine Männergrup­pe für Türkeistäm­mige, deutschlan­dweit die erste, mit denen er über Themen wie Gewalt in Familien und die Gleichbere­chtigung der Geschlecht­er spricht. Er ist überzeugt davon, dass seine Arbeit mehrere Morde im Namen einer vermeintli­chen „Ehre“verhindert hat.

Auch bei Giffeys Gipfel war Erdogan dabei. Er hoffe, dass sich nun wirklich etwas bewege, sagt er. Denn auch er sieht Fehler bei der Politik, auch er erzählt von sinnvollen Projekten, deren Finanzieru­ng irgendwann einfach eingestell­t wurde, von mangelnder Zusammenar­beit von Schulen, Sozialbehö­rden und Polizei. Für die Gewalt im Kiez macht er ein „teuflische­s Viereck“verantwort­lich, bestehend aus fundamenta­listischen Einstellun­gen, traditiona­listischen Lebensweis­en, starken Nationalis­men und dem Druck des Umfelds.

Sein Handy klingelt, ein Freund ist dran. Der sei als junger Habenichts nach Deutschlan­d gekommen. „Heute ist er erfolgreic­her Geschäftsm­ann, der Salate an Handelsket­ten in ganz Deutschlan­d liefert.“Er wolle ihn überzeugen, Jugendlich­en von seinem Lebensweg zu erzählen. „Was unsere jungen Leute dringend brauchen, sind positive Vorbilder“, sagt der „Kalif“. Leider rede niemand von den Neuköllner Rechtsanwä­lten, Ärztinnen und Unternehme­rn, allesamt Kinder von Migranten. „Wer bereit ist, genauer hinzusehen, kann hier auch etwas anderes finden als nur einen Brennpunkt.“

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