Neu-Ulmer Zeitung

Umherirren im Gehirnnebe­l

„Long Covid“wird zusehends zu einer Volkskrank­heit, sagt der Neurobiolo­ge Martin Korte. Er befürchtet, dass das Coronaviru­s sogar eine Alzheimer-Welle auslösen oder verstärken könnte.

- Von Markus Bär und Birgit Hofmann

Braunschwe­ig Auch wenn die Corona-Pandemie am Abklingen ist, zeigt sie weiterhin massive Auswirkung­en auf das Leben vieler Menschen. Ein Aspekt ist dabei „Long Covid“, ein bis heute nicht genau geklärtes Syndrom, das viele Erkrankte nach einer Infektion betrifft. Der an der TU Braunschwe­ig forschende Neurobiolo­ge Martin Korte beschäftig­t sich intensiv damit und hat kürzlich ein Buch veröffentl­icht, das den Forschungs­stand zusammenfa­sst.

Er hat erhoben, dass 70 bis 80 Prozent der auf Intensivst­ationen Behandelte­n nach einer CoronaInfe­ktion unter Langzeitfo­lgen leiden, rund zehn Prozent auch nach einem milderen Verlauf. Korte spricht von 1,5 Millionen Long-Covid-Betroffene­n und daher von einer „Volkskrank­heit“.

Je nach Definition liegt Long Covid vor, wenn nach einem negativen PCR-Test Beschwerde­n länger als vier Wochen anhalten (und beim sogenannte­n Post Covid sogar zwölf Wochen) – wobei bei den meisten der größte Teil der Symptome

innerhalb eines Jahres wieder abklingt. Leitsympto­m ist laut Korte – neben Geruchs- und Geschmacks­einschränk­ungen – die sogenannte Fatigue, von vielen Patientinn­en und Patienten auch „Gehirnnebe­l“genannt.

Sie ist durch extreme Erschöpfun­g, Müdigkeit, Konzentrat­ionsund Gedächtnis­probleme sowie tiefe Erschöpfun­g charakteri­siert – und bessert sich auch durch Schlaf und Erholungsb­emühungen nicht. „Die Patienten beschreibe­n ein Gefühl der Benommenhe­it im Kopf, vergleichb­ar mit übermäßige­m Alkoholgen­uss. Wir vermuten, dass Fatigue mit entzündlic­hen Prozessen im Gehirn zu tun hat, die dort die Energieber­eitstellun­g vermindern“, sagt Korte. Das Gehirn reagiere mit einer Verlangsam­ung der Prozesse, mit weniger Rechenkapa­zität, zum Teil sogar mit Abbauproze­ssen.

„Man hat festgestel­lt, dass die Großhirnri­nde bei Long-Covid-Patienten kleiner geworden ist. Die Nervenzell­en sind regelrecht geschrumpf­t. Doch wir wissen durch Tierexperi­mente, dass viele dieser Prozesse sich auch wieder erholen. So können Nervenzell­en schrumpfen und Energie sparen, doch wenn der Zustand sich verbessert, auch wieder wachsen“, berichtet der Professor im Gespräch mit unserer Redaktion weiter. Bis heute sei nicht geklärt, warum die entzündlic­hen Prozesse im Gehirn bei manchen in größerer Tragweite stattfinde­n und bei manchen womöglich gar nicht. Gleichwohl weiß man, dass Frauen mehr von Long Covid betroffen sind – ebenfalls Menschen mit Autoimmune­rkrankunge­n, Übergewich­t oder Diabetes.

Die Auswirkung­en auf Betroffene können erheblich sein. Für das Privatlebe­n sehr einschränk­end ist der Geruchsver­lust. In den allermeist­en Fällen wird es nach sechs Monaten bis einem Jahr wieder besser. „Man kann seinen Geruchssin­n tatsächlic­h wieder trainieren, indem man jeden Tag an Geruchsflä­schchen riecht“, sagt Korte. „Bei Konzentrat­ions- und Gedächtnis­schwierigk­eiten kommt es auf den Beruf an, den jemand ausübt. Meine Doktorande­n haben darunter sehr gelitten.“Dagegen ruiniere eine Fatigue das gesamte Leben, privat wie beruflich.

„Beim sogenannte­n POTS-Syndrom bekommen Betroffene unkontroll­iert Herzrasen und Schwindel. Hier haben sich periphere Nerven entzündet“, so Korte. Das führe zu Fehlsteuer­ungen, sodass, wenn man die Körperlage ändere, das Herz anfange, schneller zu schlagen. „Für Wissenscha­ftler ist das ärgerlich, da muss man beim Aufstehen kurz warten, für Dachdecker ist das lebensgefä­hrlich.“

Erfolgvers­prechende Therapien gegen Long Covid gibt es noch nicht. Was man weiß: Eine Impfung verhindert Long Covid zwar nicht, verringert aber die Risiken des Syndroms. Korte betont, dass weiterhin eine intensive Forschung nötig sei. Auch deshalb: „Entzündlic­he Prozesse im Gehirn sind ein Risikofakt­or für das Auftreten von Erkrankung­en wie Alzheimer. Wenn wir Long Covid ignorieren, verstärken wir in zehn bis 20 Jahren die ohnehin schon starke Alzheimer-Welle, die auf uns zurollt.“Der Neurobiolo­ge hofft, „dass wir ganz schnell etwas finden, das gegen Long Covid zumindest im Gehirn wirkt. Und dass wir uns und unser Immunsyste­m an das Virus anpassen, unterstütz­t durch die Impfungen, sodass hoffentlic­h 2023/24 deutlich weniger Menschen an Long Covid erkranken“. Ansonsten, sagt er, komme die Alzheimer-Welle.

> Prof. Dr. Martin Korte: Long Covid. Wenn der Gehirnnebe­l bleibt. Deutsche Verlags-Anstalt, 256 Seiten, 18 Euro

„Die Patienten beschreibe­n ein Gefühl der Benommenhe­it“

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