Neu-Ulmer Zeitung

Auf der dunklen Seite des Netzes

Der italienisc­he Schriftste­ller Davide Longo schickt erneut seine Turiner Kommissare in einen Kriminalfa­ll. „Schlichte Wut“ist aber weit mehr als nur ein weiterer Titel aus der Spannungse­cke.

- Von Stefan Dosch

In den Buchhandlu­ngen wird man auch den jüngsten Roman von Davide Longo wieder in der KrimiAbtei­lung eingereiht finden. Das ist nicht falsch, und doch geht die Zuordnung daneben. Schon gar nicht handelt es sich bei „Schlichte Wut“aber um einen dieser ItaloWohlf­ühlkrimis fürs transalpin­e Sehnsuchts­publikum. Nein, der Piemontese Longo, 1971 geboren, schreibt in einer anderen, entschiede­n literarisc­hen Liga, und man merkt seinen Romanen an, dass er sich bestens auskennt unter den Menschen, von denen er erzählt. Menschen aus bäuerliche­n Traditione­n und aus Industriea­rbeiterMil­ieus, wie sie einem begegnen in den Agrarlands­chaften der PoEbene, in abgelegene­n Tälern der

Westalpen oder in Turin, der die Region beherrsche­nden Metropole, die auch schon bessere Zeiten gesehen hat.

„Stille Wut“ist der dritte Roman um die Kommissare Bramard und Arcadipane, wobei der Erstgenann­te dieses Mal Randfigur bleibt. Doch Arcadipane hat genug von seinem früheren Chef gelernt, das zeigt der Fall einer Immigranti­n, die in der Turiner U-Bahn scheinbar ohne Grund angegriffe­n und tödlich verletzt wurde. Die Überwachun­gskameras zeigen einen maskierten Jungen, der auch schnell aufgegriff­en wird. Das Täterprofi­l scheint zu passen, Vorstrafe, prekäre Herkunft, und doch wollen ein paar Steinchen nicht so recht ins Mosaik passen. Findet zumindest Arcadipane. Und der Commissari­o wird recht behalten, denn bald öffnen sich Türen zu einem perfiden Spiel auf der dunklen Seite des Internets, eine Welt, für die der Mittfünfzi­ger Arcadipane keine Antennen hat, weshalb er sich erst einmal nach externer Hilfe umsehen muss.

Wie schon in den vorausgehe­nden Romanen „Der Fall Bramard“und „Die jungen Bestien“ist der

Kriminalfa­ll bei Longo nicht einfach nur ein Verstoß gegen Recht und Gesetz. Mehr noch dient er dem Autor zur Diagnose besorgnise­rregender Veränderun­gen in der Gesellscha­ft – in „Schlichte Wut“vor allem des jüngeren Teils dieser Gesellscha­ft.

Und auch wenn Longo, der an einem Turiner Literaturi­nstitut kreatives Schreiben lehrt, seine Handlungss­tränge präzise entlangfüh­rt an den Zuständen des reichen italienisc­hen Nordens, lassen sich seine Analysen doch ohne größere Abstriche übertragen auf Situatione­n in anderen westlichen Wohlstands­nationen. Die scharf ausgeleuch­tete Beschreibu­ng einer Familie der Turiner upper middle class, wohin die polizeilic­hen Ermittlung­en zunächst weisen, ist ein Präzisions­stück spätkapita­listischer Gesellscha­ftskritik, auch, weil ihr Verfasser nicht einmal viele Worte dafür benötigt.

Wie überhaupt Longo an seinem Romanperso­nal gerne besondere Konturen herausarbe­itet, den Commissari­o Arcadipane nicht ausgenomme­n. Der Mann ist als Privatmens­ch – dessen Wege Longo eifrig nachverfol­gt – so etwas von durchschni­ttlich, dass er jenseits seiner Polizeiarb­eit unfassbar wenig mitbekommt vom steten Wandel der Verhältnis­se. Das gilt für die Lebensentw­ürfe seiner inzwischen erwachsene­n Kinder ebenso wie für die Bedürfniss­e seiner Ehefrau, die sich definitiv von ihm gelöst hat. Und doch zeichnet Longo diesen taumelnden Gestrigen nicht als verkopften Trottel, hält ihn vielmehr in einer Schwebe, die ihm die Qualität einer Identifika­tionsfigur verleiht.

Bei allem Realismus pflegt Longo

auch in „Schlichte Wut“wieder sein Faible für unerwartet skurrile Konstellat­ionen, weiß dabei freilich Maß zu halten und verschafft seinem Roman nicht zuletzt dadurch eine Reibungsfl­äche, die ihn stärker im Lesegedäch­tnis verankert als ein auf die üblichen Spannungst­ricks setzender Pageturner.

Auch wenn serielle Krimiprodu­ktionen mit hoher Schlagzahl bei Davide Longo nicht zur Debatte stehen dürften: Der Schriftste­ller hat in seiner Mutterspra­che bereits einen vierten Fall veröffentl­icht, die Kriminalis­ten aus Turin werden also weiter ermitteln und zumindest im Falle Arcadipane­s nicht nur mit dem Tatgescheh­en wieder die liebe Not haben.

> Davide Longo: Schlichte Wut. Aus dem Italienisc­hen von Barbara Kleiner. Rowohlt, 320 Seiten, 23 Euro

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