Neu-Ulmer Zeitung

„Kein Urteil der Welt macht sie lebendig“

Am 31. Januar 2022 wurden bei Kusel zwei Polizisten getötet. Wie gingen Kollegen, Freunde und Nachbarn mit dem dramatisch­en Ereignis um? Der Jahrestag reißt die Wunden wieder auf.

- Von Georg Altherr

Homburg Freisen im Saarland ist ein großes Dorf, wie es in ländlich geprägten Bundesländ­ern noch viele gibt. Man kennt sich in der Nachbarsch­aft und beim Einkauf, sonntags geht’s auf den Sportplatz zum Fußball oder man trifft sich im Eiscafé. Selbst die Kirche – Freisen galt in der Gegend immer als besonders gut katholisch – spielt noch eine Rolle. Alles gut also?

Nichts ist gut. Wer in diesen Tagen durchs verschneit­e Freisen spaziert, fühlt eine bleierne Schwere, die unsichtbar auf dem Dorf liegt. In Freisen wuchs der Polizist auf, der vor einem Jahr bei Kusel in der Pfalz im Dienst ermordet wurde. Hier besuchte er die Schule, hier spielte er Fußball, hier feuerte er das Volleyball­team der Schwester an, hier packte er in weiteren Vereinen an, wo immer es fehlte.

Wenn man die, die ihn gut kannten, anspricht, beginnen sie zu erzählen. Aber schon bald stockt die Stimme, dann geht’s nur noch schluchzen­d oder gar nicht mehr weiter.

Einen Verlust verarbeite­n, mit der Zeit einen Umgang damit lernen – das sagt sich leicht. Freunden und früheren Schulkamer­aden fällt das schwer, viele reagieren nach wie vor abrupt fassungslo­s – im ursprüngli­chen Sinn dieses Wortes –, wenn sie an das grausame Geschehen denken. Der junge

Ortsvorste­her bringt auch nicht viele Worte heraus, er kann nicht begreifen, dass sein Klassenkam­erad nicht mehr da ist. Das Mitgefühl mit den Eltern und den übrigen Angehörige­n, die alle im Ort leben, ist überall spürbar.

An der katholisch­en Kirche steht ein Ehrenmal, das ursprüngli­ch an die Opfer der Kriege erinnerte, heute an alle Opfer von Gewalt. An diesem Ehrenmal gedenken die Freisener ihres getöteten Mitbürgers. Vom Tag der Tat an legten sie hier Blumen oder Bilder ab und stellten Kerzen auf. Nicht ein paar Tage lang, sondern wochenund monatelang. Nach dem

Sommer wurde es weniger, aber in diesen Tagen sieht man hier wieder mehr Blumen und Kerzen.

Am Jahrestag werden sich die Klassenkam­eraden des Getöteten versammeln. Still und intern wollen auch die Fußballer gedenken.

30 Kilometer südlich – im saarländis­chen Homburg – war die 24-jährige Polizeianw­ärterin aufgewachs­en, der zusammen mit dem 29-jährigen Freisener das Leben genommen wurde. Auch für ihre Angehörige­n wird das Leben nie wieder, wie es vorher war. Beim Prozess wegen der beiden Morde schilderte der Anwalt der Familie, dass alle – Vater, Mutter und

Schwestern – seit der Tat nicht mehr fähig sind, zur Arbeit zu gehen und psychisch schwer leiden. Obwohl Homburg städtische­r als Freisen ist, erfährt auch hier die Familie Unterstütz­ung und viel Mitgefühl aus ihrem Umfeld.

Die Polizei hatte vor einem Jahr bundesweit bei öffentlich­en Gedenkvera­nstaltunge­n und in den sozialen Medien mit dem Slogan „Zwei von uns“getrauert. Das Jahresgede­nken fällt nun still aus. An diesem Dienstag wird es zwei Veranstalt­ungen geben, eine vor Ort und eine in der Polizeisch­ule im Hunsrück. Bei beiden wollen die Polizisten unter sich bleiben.

Hat die Tat dazu geführt, dass Polizistin­nen und Polizisten ihren Beruf aufgeben mussten? Nein, sagt Bernhard Erfort, Pressespre­cher des Polizeiprä­sidiums Kaiserslau­tern. Er habe bei seinen Kollegen eher die Reaktion beobachtet: „Der Beruf ist wichtig. Ich werde gebraucht.“Natürlich liege die Belastungs­grenze bei jedem woanders und es gebe auch Kollegen, die „seither nicht mehr im Streifendi­enst“arbeiten können. Ähnlich sei es mit der Verarbeitu­ng des Geschehene­n. Manche wollten nicht mehr darüber sprechen, andere wühle es immer wieder auf. Eine Kollegin, so Erfort, habe für sich einen Weg gefunden: Sie pflege „die Erinnerung an zwei liebe Menschen“, nicht an den Tag der Tat.

An jenem Montag wurde Bernhard Erfort von seinem Chef kurz nach 5 Uhr per Telefon geweckt: „Komm bitte sofort ins Büro. Wir haben einen großen Einsatz. Zwei Kollegen sind tot.“Auf der Fahrt in den Dienst habe er noch gehofft: „Das hat er nicht gesagt.“Dort angekommen, erfuhr Erfort die Namen der Getöteten. Den Polizisten kannte er gut. Er hatte auf der Pressestel­le ausgeholfe­n.

Doch zum Innehalten war keine Zeit. „Die erste Meldung war online. Sofort ging es los mit den Anrufen. Ich habe den Hörer abgenommen. Wenn das Gespräch rum war, folgte sofort das nächste. Den ganzen Tag. Man hört sich selbst sprechen. Man versucht eine Balance zu halten zwischen den eigenen Emotionen und profession­ellem Arbeiten.“Für Erfort lief der Tag wie im Film ab: „Was mich abgelenkt hat, das war die Arbeit.“Abends ging’s im Homeoffice weiter. An den Folgetagen trafen die Kondolenze­n aus aller Welt ein. „Die liest man am besten allein“, so Erfurt. Mit der Zeit habe er Trost gefunden, privat und durch profession­elle Begleitung. Im Dienst habe man sich gegenseiti­g Halt gegeben und tue es noch heute. „In der Konsequenz sind wir noch sensibler, noch umsichtige­r geworden – auch im Umgang untereinan­der.“

Und welche Bedeutung hat das Urteil im Mordprozes­s? Hilft es dabei, mit der Tat abzuschlie­ßen? „Nein“, sagt Erfort, „kein Urteil der Welt macht die beiden wieder lebendig.“

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