„Kein Urteil der Welt macht sie lebendig“
Am 31. Januar 2022 wurden bei Kusel zwei Polizisten getötet. Wie gingen Kollegen, Freunde und Nachbarn mit dem dramatischen Ereignis um? Der Jahrestag reißt die Wunden wieder auf.
Homburg Freisen im Saarland ist ein großes Dorf, wie es in ländlich geprägten Bundesländern noch viele gibt. Man kennt sich in der Nachbarschaft und beim Einkauf, sonntags geht’s auf den Sportplatz zum Fußball oder man trifft sich im Eiscafé. Selbst die Kirche – Freisen galt in der Gegend immer als besonders gut katholisch – spielt noch eine Rolle. Alles gut also?
Nichts ist gut. Wer in diesen Tagen durchs verschneite Freisen spaziert, fühlt eine bleierne Schwere, die unsichtbar auf dem Dorf liegt. In Freisen wuchs der Polizist auf, der vor einem Jahr bei Kusel in der Pfalz im Dienst ermordet wurde. Hier besuchte er die Schule, hier spielte er Fußball, hier feuerte er das Volleyballteam der Schwester an, hier packte er in weiteren Vereinen an, wo immer es fehlte.
Wenn man die, die ihn gut kannten, anspricht, beginnen sie zu erzählen. Aber schon bald stockt die Stimme, dann geht’s nur noch schluchzend oder gar nicht mehr weiter.
Einen Verlust verarbeiten, mit der Zeit einen Umgang damit lernen – das sagt sich leicht. Freunden und früheren Schulkameraden fällt das schwer, viele reagieren nach wie vor abrupt fassungslos – im ursprünglichen Sinn dieses Wortes –, wenn sie an das grausame Geschehen denken. Der junge
Ortsvorsteher bringt auch nicht viele Worte heraus, er kann nicht begreifen, dass sein Klassenkamerad nicht mehr da ist. Das Mitgefühl mit den Eltern und den übrigen Angehörigen, die alle im Ort leben, ist überall spürbar.
An der katholischen Kirche steht ein Ehrenmal, das ursprünglich an die Opfer der Kriege erinnerte, heute an alle Opfer von Gewalt. An diesem Ehrenmal gedenken die Freisener ihres getöteten Mitbürgers. Vom Tag der Tat an legten sie hier Blumen oder Bilder ab und stellten Kerzen auf. Nicht ein paar Tage lang, sondern wochenund monatelang. Nach dem
Sommer wurde es weniger, aber in diesen Tagen sieht man hier wieder mehr Blumen und Kerzen.
Am Jahrestag werden sich die Klassenkameraden des Getöteten versammeln. Still und intern wollen auch die Fußballer gedenken.
30 Kilometer südlich – im saarländischen Homburg – war die 24-jährige Polizeianwärterin aufgewachsen, der zusammen mit dem 29-jährigen Freisener das Leben genommen wurde. Auch für ihre Angehörigen wird das Leben nie wieder, wie es vorher war. Beim Prozess wegen der beiden Morde schilderte der Anwalt der Familie, dass alle – Vater, Mutter und
Schwestern – seit der Tat nicht mehr fähig sind, zur Arbeit zu gehen und psychisch schwer leiden. Obwohl Homburg städtischer als Freisen ist, erfährt auch hier die Familie Unterstützung und viel Mitgefühl aus ihrem Umfeld.
Die Polizei hatte vor einem Jahr bundesweit bei öffentlichen Gedenkveranstaltungen und in den sozialen Medien mit dem Slogan „Zwei von uns“getrauert. Das Jahresgedenken fällt nun still aus. An diesem Dienstag wird es zwei Veranstaltungen geben, eine vor Ort und eine in der Polizeischule im Hunsrück. Bei beiden wollen die Polizisten unter sich bleiben.
Hat die Tat dazu geführt, dass Polizistinnen und Polizisten ihren Beruf aufgeben mussten? Nein, sagt Bernhard Erfort, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Kaiserslautern. Er habe bei seinen Kollegen eher die Reaktion beobachtet: „Der Beruf ist wichtig. Ich werde gebraucht.“Natürlich liege die Belastungsgrenze bei jedem woanders und es gebe auch Kollegen, die „seither nicht mehr im Streifendienst“arbeiten können. Ähnlich sei es mit der Verarbeitung des Geschehenen. Manche wollten nicht mehr darüber sprechen, andere wühle es immer wieder auf. Eine Kollegin, so Erfort, habe für sich einen Weg gefunden: Sie pflege „die Erinnerung an zwei liebe Menschen“, nicht an den Tag der Tat.
An jenem Montag wurde Bernhard Erfort von seinem Chef kurz nach 5 Uhr per Telefon geweckt: „Komm bitte sofort ins Büro. Wir haben einen großen Einsatz. Zwei Kollegen sind tot.“Auf der Fahrt in den Dienst habe er noch gehofft: „Das hat er nicht gesagt.“Dort angekommen, erfuhr Erfort die Namen der Getöteten. Den Polizisten kannte er gut. Er hatte auf der Pressestelle ausgeholfen.
Doch zum Innehalten war keine Zeit. „Die erste Meldung war online. Sofort ging es los mit den Anrufen. Ich habe den Hörer abgenommen. Wenn das Gespräch rum war, folgte sofort das nächste. Den ganzen Tag. Man hört sich selbst sprechen. Man versucht eine Balance zu halten zwischen den eigenen Emotionen und professionellem Arbeiten.“Für Erfort lief der Tag wie im Film ab: „Was mich abgelenkt hat, das war die Arbeit.“Abends ging’s im Homeoffice weiter. An den Folgetagen trafen die Kondolenzen aus aller Welt ein. „Die liest man am besten allein“, so Erfurt. Mit der Zeit habe er Trost gefunden, privat und durch professionelle Begleitung. Im Dienst habe man sich gegenseitig Halt gegeben und tue es noch heute. „In der Konsequenz sind wir noch sensibler, noch umsichtiger geworden – auch im Umgang untereinander.“
Und welche Bedeutung hat das Urteil im Mordprozess? Hilft es dabei, mit der Tat abzuschließen? „Nein“, sagt Erfort, „kein Urteil der Welt macht die beiden wieder lebendig.“