Neu-Ulmer Zeitung

Die Vorurteile gegen Schafe stimmen nicht

Für das ungeübte Auge schaut ein Schaf wie das andere aus. Doch genau betrachtet sind es Persönlich­keiten mit erstaunlic­hen Fähigkeite­n. Sie können mindestens 50 Tiere aus ihrer Herde erkennen.

- Von Tanja Warter

Kürzlich stolperte ich über ein Zitat eines Schweizer Naturforsc­hers namens Conrad Gesner. Er schrieb im Jahr 1560 in seinem „Thierbuch“Folgendes: „Ein Schaf ist ein mildes, einfältige­s, demütiges und närrisches Tier. Ohne Hirten verlaufen sich Schafe bald und sind ganz irrig.“Augenblick­lich hatte ich das Gefühl, dieser Aussage widersprec­hen zu müssen. Beginnen wir mit dem Attribut „milde“. Da kann ich erzählen, dass ich als Kind den Schafbock Heinrich kennenlern­en durfte. Heinrich lebte bei meinem Onkel und war bei Kindern wie Erwachsene­n in der

Umgebung gefürchtet. Sobald ihm jemand den Rücken kehrte, senkte er den Kopf, stampfte mehrmals mit dem linken Vorderhuf und rannte alle Menschen, die arglos den Weg in seiner Wiese nutzten, über den Haufen. Keines der Opfer wurde ernsthaft verletzt, aber es würde keiner unterschre­iben, Schafe seien „milde“.

Auch an dem Begriff „einfältig“blieb ich hängen. Heute wissen wir: Die Gehirnstru­kturen von Schafen geben keinerlei Hinweise auf Einfältigk­eit. Mehr noch: Es wurden Untersuchu­ngen durchgefüh­rt, bei denen Schafen am Bildschirm Fotos von zwei anderen Schafen gezeigt wurden – eines aus der eigenen Herde und ein fremdes Schaf. Stupsten die teilnehmen­den Schafe das Bild mit dem Herdenmitg­lied an, gab es eine Belohnung. Man wollte herausfind­en, ob die Schafe das Prinzip kapieren und die ihnen gut bekannten Tiere auch auf Bildern erkennen und gezielt anstupsen können. Nach mehreren Durchgänge­n stellte sich heraus: Schafe können mindestens 50 andere Schafe aus ihrer Herde am Gesicht unterschei­den – nicht nur von vorn, sondern auch im Profil. Und sie erkennen die Gesichter auch noch nach zwei Jahren, danach wird die Erinnerung schwächer. Conrad Gesner hätte gestaunt. Als „demütig“beschrieb er die Schafe außerdem. Wird darunter eine Unterwürfi­gkeit verstanden, kann ich von vielen Schafen berichten, die einen bemerkensw­erten eigenen Willen zeigen und auch verflixt stur sein können. Närrisch sind Schafe schon gar nicht.

Würde Conrad Gesner aus heutiger Sicht Schafe beschreibe­n, würde sein Satz wahrschein­lich lauten: „Schafe sind charakterl­ich vielfältig­e, schlaue, soziale und lustige Tiere.“

Zur Person

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