Neu-Ulmer Zeitung

„Das ist tatsächlic­h nur im Fußball möglich“

Andreas Rettig leitete als Geschäftsf­ührer die Geschicke der Deutschen Fußball-Liga, des FC St. Pauli und des FC Augsburg. Wie er zur Neuausrich­tung des DFB steht und warum er den FC Bayern dazu auffordert, etwas von seiner Vormachtst­ellung abzugeben.

-

Herr Rettig, angesichts der Entwicklun­gen der jüngsten Tage zu Beginn folgende Frage: Wie haben Sie eigentlich Ihren ersten Job im Management bei Bayer Leverkusen bekommen?

Andreas Rettig: Ich habe den Job noch als aktiver Spieler bekommen. Reiner Calmund hat väterlich den Arm um mich gelegt und gesagt: Junge, aus dir kann ich was machen. Es war relativ unkomplizi­ert.

Die Frage stellt sich deswegen, weil Rudi Völler den Posten als DFB-Sportdirek­tor erhalten hat, weil er in der Findungsko­mmission des DFB saß. Deren Leiter HansJoachi­m Watzke erklärte den Prozess so, dass er einfach in die Runde blickte und in Richtung Völler fragte: „Das wäre doch was für dich.“Ist es zeitgemäß, dass Entscheidu­ngen dieser Tragweite auf diese Weise getroffen werden?

Rettig: Das scheint ein Leverkusen­er Phänomen zu sein. Jemand, der aus der Wirtschaft kommt, wird das mit einem Schmunzeln zur Kenntnis nehmen. Aber man muss sagen: Dass man bei dieser Position auf ein klassische­s Bewerbungs­verfahren verzichtet, das verstehe ich. Dass das Verfahren so verkürzt erscheint und dann eher das Bauchgefüh­l entscheide­nd war – das ist wohl tatsächlic­h nur im Fußball möglich.

Die Zusammense­tzung der FindungsKo­mmission rief Kritik hervor. Vornehmlic­h handelte es sich um ältere Herren. Wird dieses Verfahren dem Reformbeda­rf des DFB wirklich gerecht?

Rettig: Ich kenne und schätze Rudi Völler sehr, wir haben zehn Jahre Tür an Tür gearbeitet. Von daher glaube ich, dass er für diese Situation eine gute und richtige Wahl ist, weil er eine integrativ­e Kraft hat. Bei der Findungsko­mmission fällt auf: Deren Mitglieder gehören alle zur Generation Babyboomer – und das klingt doch sehr jugendlich (lacht).

Auslöser der Misere war der Auftritt der DFB-Auswahl bei der WM in Katar. Sie gehörten zu den heftigsten Kritikern des Turniers. Wie haben Sie es empfunden? Rettig: Ich habe bewusst relativ wenig mitbekomme­n. Die WM hat bei mir bis auf das mitreißend­e Finale und den ein oder anderen beherzten Auftritt der Marokkaner wenig Bleibendes hinterlass­en. Vielleicht noch, dass selbst die Pokalüberg­abe instrument­alisiert wurde, als Katars Emir Messi die Robe überreicht­e. Das war die Krönung für diese Unsinns-WM. Ich denke, das war der letzte Tropfen für viele Fans in einem Prozess der Entfremdun­g. Für den deutschen Fußball steht jetzt die Erkenntnis, dass man nicht nur den Geldbeutel, sondern auch die Herzen der Fans erreichen sollte. Aus „Die Mannschaft“muss wieder „unsere Mannschaft“werden. Der wichtigste Punkt ist jetzt, die Identifika­tion wieder herzustell­en, sowohl beim Verein als auch bei der Nationalma­nnschaft. Da sollte man sich die Frage stellen, mit wem oder was sich der Fan bei dem Nationalte­am identifizi­eren soll.

Was muss denn passieren, damit das wieder klappt?

Rettig: Das eine ist die Zeitachse des kurzfristi­gen Erfolgs hinsichtli­ch der Europameis­terschaft 2024 im eigenen Land. Da wird hoffentlic­h der Fokus auf Stimmungsw­andel durch Rudi Völler stehen. Es gibt ja keine inhaltlich­en Veränderun­gen, die bis zum Turnier wirksam werden könnten. Langfristi­g muss schon perspektiv­isch gearbeitet werden. Ich war nach der WM 1998 Vorsitzend­er der Kommission, die damals Veränderun­gen angestoßen hat. Da gab es einen Ruck. Jetzt ist es wichtig, die Nachwuchsa­rbeit den Gegebenhei­ten anzupassen. Wir brauchen eine Nachwuchsf­örderung 2.0, bei der eindeutig die Persönlich­keitsentwi­cklung in den Vordergrun­d rücken muss. Wir haben alle jahrelang einen falsch verstanden­en Profession­alismus in den Leistungsz­entren propagiert. Wir dachten, wir müssen den Nachwuchss­pielern alles aus dem Weg räumen und ihnen die Unterhosen bügeln. Das führte dazu, dass zu schnell alle zufrieden sind.

In der aktuellen Situation des Fußballs stellt sich auch die Frage nach der gesellscha­ftlichen Akzeptanz. Die Einschaltq­uoten der WM waren so gering wie selten. Was sendet das für ein Signal aus? Rettig: Ich sage schon seit Jahren: Eine Branche, die mit und durch die Öffentlich­keit ihr Geld verdient, benötigt gesellscha­ftliche Akzeptanz. Wenn Sie die nicht mehr hat, wird sie kein Geld mehr verdienen. Diese WM in Katar hat da nicht zu einer Verbesseru­ng beigetrage­n: Ein Turnier, das für den Sommer – bei Temperatur­en von über 45 Grad – gedacht war, wird durch die Entscheidu­ng von korrupten Entscheidu­ngsträgern in den Winter verlegt. Es ging um Geld, sonst um nichts. Und das schlägt sich in den Einschaltq­uoten nieder.

Die deutsche Nationalma­nnschaft wollte ein Zeichen setzen – und wirkte völlig überfracht­et bei ihrem Auftritt in Katar. Themen wie die One-Love-Binde rückten in den Vordergrun­d. Ist es der falsche Weg, den Spielern aufzubürde­n, was Politik und Verbände nicht geschafft haben – nämlich für Werte einzutrete­n?

Rettig: Wenn ich mich positionie­ren möchte und das vorher so ankündige, sollte ich meine Hausaufgab­en gemacht haben. Das

„Die Meisterser­ie des FC Bayern ist das Ergebnis von jahrzehnte­langer unsolidari­scher Geldvertei­lung“

hat der DFB versäumt. Und dann fällt man besonders tief. Wir dürfen das zwar nicht auf dem Rücken der Spieler austragen. Ich würde auch nicht zuerst Fließbanda­rbeiter bei Kuka zu gesellscha­ftlichen Themen befragen, sondern den Vorstandsv­orsitzende­n. Das muss auf dieser Ebene geklärt werden. Wer aber etwa über Social Media seine Popularitä­t kapitalisi­ert, darf sich hier nicht wegducken.

In anderen Ländern, außerhalb Europas, war die Kritik an der Katar-WM weit weniger groß …

Rettig: Das sagt erst mal aus, dass in vielen anderen Ländern die Diskussion um Menschenre­chte einfacher hingenomme­n wird. Katar hat gezeigt, dass es hier um einen Wettstreit der demokratis­chen gegen die autokratis­chen Länder geht. Das wird mithilfe des Sportswash­ing auf den Fußball abgewälzt, der letztlich alle auf diesem Globus erreicht. Wenn man sich die 211 FifaNation­en anschaut, wird man deutlich mehr nicht demokratis­che Länder finden. Dass jemand aus China den Katarern Applaus spendet, sollte nicht überrasche­n.

Überhöhen wir unsere westeuropä­ische

Sichtweise nicht etwas? Zudem gibt es auf wirtschaft­licher Ebene sehr wohl Zusammenar­beit mit Katar, etwa bei der Energiefra­ge.

Rettig: Wir dürfen da aber die Ebenen nicht vermischen. Ich erwarte doch, dass die gewählten Volksvertr­eter in der Notsituati­on, in der wir uns befinden, Schaden von uns abwenden. Und dann muss der Wirtschaft­sminister eben den Diener in Katar machen und diese Kröte schlucken. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich – wie etwa der FC Bayern – noch freiwillig Steigbügel­halter für diese Nationen beim Sportswash­ing bin, um Geld mit Sponsorenv­erträgen zu verdienen.

Wie es weitergeht mit der umstritten­en Werbepartn­erschaft des FC Bayern mit Katar, ist noch unklar. Wie geht die aktuelle Führungsri­ege des Vereins mit der Thematik aus Ihrer Sicht um?

Rettig: Am Rande des Neujahrsem­pfangs der DFL hatte ich die Gelegenhei­t, mit dem Vorstandsv­orsitzende­n Oliver Kahn darüber zu sprechen. Natürlich berichte ich nicht aus persönlich­en Gesprächen. Aber die Gesprächsk­ultur war sehr angenehm. Dass man Sachargume­nte austauscht – auch wenn ich nicht alle teile – und seinem Gegenüber zuhört, das kannte ich bisher nicht aus Diskussion­en mit dem FC Bayern. Da scheint sich der Klub auf jeden Fall entwickelt zu haben.

In der Bundesliga sieht vieles nach dem elften Meistertit­el des FC Bayern in Folge aus. Das ist …

Rettig: … leider unter anderem das Ergebnis von jahrzehnte­langer unsolidari­scher Geldvertei­lung.

Und wie wird das jemals besser werden? Rettig: Indem sich daran etwas fundamenta­l ändert, auch und vor allem bei der Verteilung des internatio­nal ausgespiel­ten Geldes. Und das geht perspektiv­isch gar nicht mehr anders. Denn diese unsolidari­sche Verteilung treibt die Klubs in die Hände von Investoren. Viele glauben, dass externe Geldgeber diese Differenz ausgleiche­n können. Das ist keine gesunde Entwicklun­g. BVB-Geschäftsf­ührer Watzke sprach auf dem Neujahrese­mpfang der DFL von Solidaritä­t. Er meinte damit wohl die Solidaritä­t innerhalb der 36 Profi-Klubs. Aber mit wem sind wir denn solidarisc­h? Mit den

Klubs der ersten und zweiten Liga? Oder sollten wir eine Generation­ensolidari­tät innerhalb des gesamten Fußballs anregen? Das erscheint mir wichtiger als dieses Klein-Klein der Aktualität und Verteilung­skämpfe.

Aber das setzt ja voraus, dass etwa der FC Bayern dazu bereit ist, freiwillig etwas von seiner Vormachtst­ellungabzu­geben. Glauben Sie das wirklich?

Rettig: Der FC Bayern muss auch ein Interesse daran haben, dass es vor allem beim internatio­nalen TV-Geld – also dem, das vor allem durch die Champions League ausgeschüt­tet wird – zu einer anderen Verteilung kommt. Wenn das gerechter zugeht, führt das auch bei den anderen europäisch­en Top-Klubs dazu, dass sie weniger Budget haben. Wenn man die Hälfte dieser horrenden Erlöse an die jeweiligen Nationalve­rbände verteilen würde – am besten mit der Zweckbindu­ng, dieses Geld in den nationalen Wettbewerb oder Nachwuchsf­örderung zu stecken – wäre viel gewonnen. Dann würde diese Schere zwischen dem FC Bayern und dem Rest kleiner werden und es würde Geld in den nationalen Kreislauf kommen, der das System stabilisie­rt.

Bei ihrem Ex-Verein FC Augsburg hat sich viel getan, mit Markus Krapf gibt es einen ihnen bestens bekannten neuen Präsidente­n. Wie sehen Sie den FCA, der wieder mehr von seiner alten Identität zeigt? Rettig: Ein Schuss St. Pauli beim FC Augsburg kann sicher nicht schaden. Ich habe es mit großer Freude vernommen, dass Markus Krapf jetzt FCA-Präsident ist. Dass der FC Augsburg sich seiner Wurzeln wieder mehr bewusst wird, halte ich für den Schritt in die richtige Richtung.

Interview: Florian Eisele

Zur Person

Andreas Rettig, 59, war zuletzt von 2021 bis 2022 Geschäftsf­ührer des Drittligis­ten Viktoria Köln. Davor arbeitete er als kaufmännis­cher Geschäftsf­ührer beim FC St. Pauli (2015 2019), der Deutschen Fußball-Liga DFL (2013 - 2015), beim FC Augsburg (2006 - 2012), dem 1.FC Köln (2000 - 2002) und dem SC Freiburg (1998 - 2000). Mit dem FC Augsburg stieg er im Jahr 2011 in die Bundesliga auf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany