Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (28)
Ich hielt mich unverwundert und beschloß, tapfer zu lügen, wenn er mich früge, ob ich ihn belauscht hätte.
Er aber näherte sich mit ruhigen Schritten, unmerklich lächelnd. ,Sohn Japhets‘, sprach er mich an, ,du hast unter den Kindern Sems gelebt und weißt, daß sie es nicht glauben, der Ewige habe seinen einzigen Sohn ans Kreuz schlagen lassen – wie belehrst du sie eines Besseren?‘
Ich erhob meine Augen fest auf den Kanzler und antwortete unverzagt: ,Mein Salvator hat den Verräter Judas geküßt und seinen Peinigern vergeben; solches aber vermag ein bloßer Mensch nicht, denn es geht gegen Natur und Geblüt.‘
Herr Thomas wiegte leise das Haupt. ,Das hast du recht gesagt‘, meinte er, ,es ist schwer und unmöglich.‘
Waren aber die Worte des Kanzlers nicht allesamt christlich, so wurden es seine Werke je mehr und mehr. Es schien in jenen Tagen, als wolle Herr Thomas, müde seines Glanzes, der Herrlichkeit sich entkleiden und, selbst ein friedloser und herzkranker Mann, Übel heilen und Frieden bringen, so weit seine Macht reichte. Aber er tat es mit furchtsamer Klugheit, damit der König und die Normannen seiner nicht spotteten oder einen Argwohn gegen ihn faßten.
Es wurde ihm nicht schwer, dem Könige zu zeigen, daß es klug sei, nicht über Maß seine Sachsen zu belasten und sie nicht zur Verzweiflung zu treiben, und daß es vorteilhaft sei, als ein gütiges Wesen über ihnen zu stehen, großmütiger als seine Normannen, die ihre sächsischen Knechte und Mägde nach ihrem Gefallen mißhandelten. So durfte er mit königlichen Gesetzen das sächsische Volk erleichtern, nicht auffällig und herausfordernd, sondern umsichtig und verborgen, um die Normannen nicht zu reizen. Begreift, er packte die Last auf dem Rücken des Saumtieres um, ohne sie zu vermindern, und sorgte nur dafür, daß die Riemen nicht zu tief ins Fleisch schnitten.
Aber auch den Normannen erwies er Dienste und verdoppelte gegen sie seine Freigebigkeit. Er überhäufte sie mit Gunst und fürstlichen Geschenken und schlichtete ihre persönlichen Zwiste mit weisen Schiedsprüchen. Hatten sich zwei Mächtige verfeindet, so trat er als Friedensstifter zwischen sie.
,Wer bin ich?‘ sagte er dann wohl, ,um mich in die Angelegenheiten der Großen zu mischen? Ein
Diener meines Herrn, der ihm die Stützen seines Thrones erhalten will.‘ Und die zwei Feinde gingen versöhnt und in ihrem Stolze befriedigt von ihm.
Hätte sich Herr Fauconbridge nur warnen lassen! Dieser beneidete den Kanzler um seine Gunst bei beiden Königen, Herrn Heinrich und dem Capetinger, und stellte ihm nach mit gezogenem Schwerte, aber auch mit heimlicher Verleumdung und der Schrift des Kanzlers nachgefälschten, an den König von Frankreich gerichteten Briefen, mit denen er unter der Hand Herrn Thomas des Hochverrats bezichtete, während er selbst mit dem Hofe von Frankreich gefährliche Ränke spann.
Doch Herr Thomas durchschaute und überblickte ihn. Er lud ihn ohne Wissen und Beunruhigung des Königs zu sich – ich selber trug den Brief – und legte ihm dann mit gelassenen Worten und in sichern Beweisstücken die Wahrheit vor. – Weil er ihn aber, ohne Rache an ihm zu suchen, ziehen ließ, statt ihn, wie er gekonnt hätte, mit einem Schlage zu vernichten, hielt ihn der Normann für einen vorsichtigen Feigling, der sich vor dem entscheidenden Streiche fürchte, und gebärdete sich fortan zwiefach sicher und frech, bis er mit einer Tat offener Felonie die Krone angriff und man ihm dann freilich sein Blutgerüst zimmern mußte.
Dergestalt verlor Herr Fauconbridge, dessen Ahnen mit dem Eroberer gekommen waren, sein Erbe und sein Haupt durch die langmütige Barmherzigkeit des Kanzlers.
Als dieser dem Könige später erzählte, er habe die verwegenen Pfade des rebellischen Barons von Anfang an gekannt und im Auge behalten, der König aber ihn fragte, warum er den Verräter nicht früher entlarvt habe, antwortete der Kanzler: ,O Herr, wozu?… Es regen sich unter dem Tun eines jeglichen unsichtbare Arme. Alles Ding kommt zur Reife, und jeden ereilt zuletzt seine Stunde.‘
VIII
Da begab es sich eines Tages, daß der König mit seinem Kanzler über Staatsgeschäften zusammensaß. Das war in einem Schlosse der Normandie.
Der Herr ließ sich von mir den Becher füllen mit jenem leichten Schaumweine, den er liebte, und der Kanzler legte ihm den Inhalt der eben aus Engelland angelangten Botentasche vor. Einen Brief, an welchem das Siegel von Canterbury hing, behielt er bis zuletzt und sprach dann, denselben vor dem Könige entfaltend, in seiner ruhigen Art:
,Der Primas von Canterbury ist zu Anfang verwichener Woche gestorben, erhabener Herr.‘
Herr Heinrich wunderte sich wenig darüber.
Ohne etwas zu entgegnen, ließ er wohlgefällige Blicke auf dem Kanzler ruhen.
,Er kränkelte schon lange‘, fuhr Herr Thomas fort, ,doch glaubte ich ihn seinem Ziele noch nicht so nahe. 29. Fortsetzung folgt