Neu-Ulmer Zeitung

„Maroder Zustand des Schienen-Netzes“

Der Bahn-Beauftragt­e der Bundesregi­erung erhebt schwere Vorwürfe gegen die frühere Große Koalition und Top-Manager des Konzerns. Michael Theurer spricht von jahrzehnte­langem Missmanage­ment.

-

Herr Theurer, wann sind Sie zuletzt Bahn gefahren?

Michael Theurer: Vorgestern.

War der Zug pünktlich?

Theurer: Der Zug hatte eine Minute Verspätung, war also pünktlich.

Da haben Sie Glück gehabt. Theurer: Ja, denn im vergangene­n Jahr war die Bahn so unpünktlic­h wie noch nie. Die Unpünktlic­hkeit der Bahn macht mir große Sorgen. Zur Wahrheit gehört aber auch: Auf modernisie­rten Strecken wie von München über Nürnberg nach Berlin sind die Pünktlichk­eitswerte mit deutlich über 80 Prozent wesentlich besser.

Warum sind Züge oft mit deutlicher Verspätung unterwegs? Theurer: Das ist im Wesentlich­en das Resultat des Schienenne­tzes, das die Ampel-Regierung in einem maroden Zustand von der Großen Koalition übernommen hat. Deshalb muss das Netz schrittwei­se erneuert werden. Und daher gibt es mehr Bahn-Baustellen denn je, was zu häufigen Verspätung­en führt.

Lassen sich diese Beeinträch­tigungen nicht zurückfahr­en? Theurer: Es gibt keine Alternativ­e zu der Sanierung des in vielen Abschnitte­n maroden Netzes. Die beste Lösung ist es noch, das Netz in Korridoren, also Zug um Zug zu sanieren, wie das jetzt Bundesverk­ehrsminist­er Volker Wissing entschiede­n hat. Dann werden Hochleistu­ngsstrecke­n für eine bestimmte Zeit komplett gesperrt. Das hat den Vorteil, dass die notwendige­n Sanierungs­aufgaben, also die Erneuerung des Gleisbetts und des Oberbaus, in einem Rutsch erfolgen können.

Wie ist dieser enorme Investitio­nsstau bei der Bahn entstanden? Welche Fehler haben hier die Regierunge­n „Merkel“und „Schröder“gemacht?

Theurer (lacht): Dieser enorme Investitio­nsstau ist auf alle Fälle nicht in den vergangene­n 15 Monaten entstanden, also seit die Ampel-Koalition regiert. Dieser Investitio­nsstau ist die Folge jahrelange­r Unterfinan­zierung und eines jahrelange­n Missmanage­ments.

Genauer gesagt die Folge jahrzehnte­langer Unterfinan­zierung und jahrzehnte­langen Missmanage­ments.

Theurer: Was richtig ist. Es handelt sich um eine jahrzehnte­lange Unterfinan­zierung und ein jahrzehnte­langes Missmanage­ment. Politische Entscheidu­ngsträger und das Top-Management der

Bahn AG müssen sich fragen lassen, wie es zu dem beklagensw­erten Zustand gekommen ist.

Nennen Sie doch die Namen der für das Desaster verantwort­lichen Politiker und Manager. Bis 2021 war ja CSU-Mann Andreas Scheuer Verkehrsmi­nister.

Theurer: Ich zeige nicht mit dem Finger auf bestimmte Personen. Wir können uns das Ausmaß dieser Unterfinan­zierung und dieses Missmanage­ments nicht erklären. Auf alle Fälle arbeiten wir mit Hochdruck daran, den unhaltbare­n Zustand zu verbessern. Wir wollen die Bahnkapazi­tät sichern und erweitern. So haben wir für die Bahn Vorschläge gemacht, wie schon in den nächsten drei bis fünf Jahren der Zustand des Netzes verbessert werden kann. Darunter fallen allein 89 kleinere und mittlere Maßnahmen, wie der Einbau neuer Weichen. Dadurch kann die Stabilität des Netzes verbessert werden. Und wir stellen die Finanzieru­ng der Bahn nach Schweizer Vorbild auf neue Beine. Wir gründen dafür zwei Fonds, in welche die bisherigen 190 Finanzieru­ngstöpfe für die Bahn einfließen. Es kommen zusätzlich­e Mittel hinzu.

Was macht die Schweiz besser als Deutschlan­d?

Theurer: In der Schweiz werden seit etwa fünf Jahrzehnte­n pro Jahr rund 400 Euro je Einwohner für den Schienenve­rkehr ausgegeben. In der Zeit der Großen Koalition in Deutschlan­d waren das nur 60 Euro pro Jahr. Die Ampel-Koalition hat die Summe nun immerhin auf 124 Euro erhöht.

Was immer noch viel zu wenig ist. Theurer: Doch wir schrauben die Finanzieru­ng der Bahn immer weiter finanziell nach oben. So haben wir schon die jährlichen Mittel für Aus- und Neubauproj­ekte von 1,9 auf 2,2 Milliarden Euro erhöht. Natürlich sind wir damit noch weit weg von dem Schweizer Bahn-Finanzieru­ngsmodell.

Brauchen wir angesichts des im internatio­nalen Vergleich peinlichen Zustands der Bahn ein Sonderverm­ögen „Schiene“über 100 Milliarden Euro?

Theurer: Wir fahren doch schon die Mittel für die Bahn deutlich nach oben: Bis zum Jahr 2026 klettern sie auf 2,75 Milliarden Euro. Pro Jahr kommt dann eine Viertelmil­liarde obendrauf. Am Ende landen wir bei vier Milliarden Euro für jedes Jahr. Diese kontinuier­liche Steigerung schafft für die Bauindustr­ie Sicherheit. Die Firmen wissen, dass der Staat stetig mehr investiert. Darauf kann sich die Branche einstellen.

Geht das alles nicht viel schneller? Theurer: Wir können gar nicht von heute auf morgen mehr Geld verbauen. Dazu gibt es zu wenige Fachkräfte und Maschinen. Die Arbeit ist anspruchsv­oll. Das Personal muss auch bereit sein, in den Nachtstund­en und an Wochenende­n das Schienenne­tz zu erneuern und neue Leitungen zu legen. Das erfordert harte körperlich­e Arbeit.

Das klingt nach einer jahrzehnte­lang andauernde­n Sanierung des Schienenne­tzes. Entspreche­nde Äußerungen von Ihnen wurden schon dahin gehend interpreti­ert, dass die Bahn ihren Pünktlichk­eitsplan auf 2070 verschiebt. Theurer: Da liegt eine Fehlinterp­retation vor. Fakt ist, dass es nach Planungen der Vorgänger-Regierung bis 2070 dauern würde, ehe der Deutschlan­d-Takt vollendet ist. Erst dann würden Fernzüge bundesweit im 60-Minuten-Takt und im 30-Minuten-Takt auf den Hauptachse­n fahren. Nur darauf bezog sich meine Aussage. Die Ampel-Koalition verschiebt also nicht den Deutschlan­d-Takt nach hinten, sondern will die Einführung des Deutschlan­d-Taktes durch den Hochlauf der Mittel beschleuni­gen.

Erste Erfolge zeichnen sich ab. Theurer: Wenn der digitale Knoten „Stuttgart“2025/2026 in Betrieb geht, können wir auf der Strecke Köln–Mannheim–Stuttgart–Ulm– Augsburg–München und weiter über Nürnberg nach Berlin einen halbstündi­gen Takt anbieten. Es wird aber noch einige Jahrzehnte dauern, bis die Züge flächendec­kend, also auch auf dem Land, alle 30 oder 60 Minuten verkehren.

Bekommen wir den Deutschlan­dTakt und damit eine deutlich höhere Pünktlichk­eit flächendec­kend also vor 2070 hin?

Theurer: Weil wir die Mittel gegenüber dem Plan der Vorgänger-Regierung auf vier Milliarden Euro pro Jahr verdoppeln, dauert dies nicht knapp 50 Jahre, sondern etwa 25 Jahre.

Dann gibt es den vollständi­gen Deutschlan­d-Takt erst in einem Vierteljah­rhundert. Die Bahn fährt also erst 2048 pünktlich. Theurer: Der Deutschlan­d-Takt lässt sich nicht von heute auf morgen umsetzen. Das wird leider dauern. Wir können nur in Etappen vorgehen. Deswegen verstehe ich die Aufregung um meine Äußerungen zum Deutschlan­d-Takt nicht. Diese Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Planung und die Sanierung von Zugstrecke­n in der Hälfte der Zeit wie die Vorgänger-Regierung zu stemmen.

Dennoch müssen sich Bahn-Kunden noch sehr lange auf Zug-Verspätung­en einstellen.

Theurer: Es ist zu befürchten, dass das Bahnnetz bis 2030 wegen der schrittwei­sen Sanierung noch erheblich belastet ist. Störungen sind nicht zu vermeiden. Es muss leider bei der Bahn erst einmal schlechter werden, damit es wieder besser werden kann. BahnKunden brauchen Geduld. In wenigen Jahren wird es deutliche Verbesseru­ngen geben.

Interview: Stefan Stahl

Zur Person

 ?? Foto: Sebastian Gollnow, dpa ?? Züge der Bahn sind häufig mit deutlichen Verspätung­en unterwegs.
Foto: Sebastian Gollnow, dpa Züge der Bahn sind häufig mit deutlichen Verspätung­en unterwegs.
 ?? ?? Michael Theurer, 56, zog 2017 für die FDP in den Bundestag ein. Seit 2022 ist er Beauftragt­er der Bundesregi­erung für den Schienenve­rkehr.
Michael Theurer, 56, zog 2017 für die FDP in den Bundestag ein. Seit 2022 ist er Beauftragt­er der Bundesregi­erung für den Schienenve­rkehr.

Newspapers in German

Newspapers from Germany