„Wir sind wirklich schlecht“
Deutschland ist bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen abgehängt: Jetzt verspricht Minister Karl Lauterbach den baldigen Durchbruch für die elektronische Patientenakte. Auch das E-Rezept ist noch nicht umgesetzt.
Berlin Die Diagnose über den Stand der Digitalisierung des Gesundheitswesens kann man aus Patientensicht getrost einen Skandal nennen: „Hier haben wir mittlerweile jahrzehntelange Rückstände“, sagt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, als er seine Digitalisierungsstrategie vorstellt. Die vor 20 Jahren beschlossenes elektronische Patientenakte wird von 99 Prozent der Kassenversicherten nicht genutzt, und selbst beim verbliebenen Prozent können die Daten nicht ausgewertet werden. „Ich war an der Einführung damals beteiligt, aber tatsächlich ist es nie richtig umgesetzt worden“, sagt der SPDMinister.
Die Folgen des hoffnungslos digital veralteten deutschen Gesundheitssystems sind inzwischen katastrophal. Ärztinnen und Ärzte rätseln in Kliniken über die medizinische Vorgeschichte von Notfällen. Therapien finden oft auf dem Stand vor Jahrzehnten statt und die Spitzenforschung hat in vielen medizinischen Bereichen Deutschland längst den Rücken gekehrt. „Wir sind wirklich schlecht“, sagt Michael Hallek, der immerhin Vorsitzender des „Sachverständigenrats zur
Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen“. Der Kölner Professor, der mit Lauterbach die Digitalstrategie vorstellt, ist selbst Krebsforscher.
Deutschland sei insbesondere im Arzneimittelbereich hinter alle anderen großen Industrienationen und die USA gefallen. „Wenn wir so weitermachen, dann bleiben wir, sage mal etwas überspitzt, so eine Art Abwurfland für Innovationen aus anderen Ländern im Gesundheitswesen“, erklärt der Mediziner. Als jüngstes Beispiel nennt Lauterbach das deutsche Vorzeigeunternehmen
Biontech, dass den praktischen Teil seiner Krebsforschung nach Großbritannien verlagert und bereits seinen CoronaImpfstoff im hochdigitalisierten Gesundheitssystem von Israel als Erstes breit auf den Markt brachte.
Lauterbach will, dass die elektronische Patientenakte Pflicht wird und man künftig aktiv widersprechen muss, wenn man sie nicht will. Bis 2024 sollen 80 Prozent der Patientinnen und Patienten diese nutzen. In Österreich haben nur drei Prozent der digitalen Akte widersprochen. Die Daten sollen anonymisiert breit für die Forschung genutzt werden können. Patienten sollen auf Wunsch ihre Akte auf dem Smartphone einsehen können.
„Die Digitalstrategie ist ein wichtiger Push für die elektronische Patientenakte und das E-Rezept“, sagt der Chef der Techniker Krankenkasse Jens Baas, der seit Jahren für mehr Digitalisierung im Gesundheitswesen kämpft. „Entscheidend ist, dass die Änderungen nicht nur auf dem Papier gut klingen, sondern auch zügig Einzug in den Praxisalltag finden. Wir brauchen dringend eine schnelle Umsetzung.“(Foto: Philipp Znidar)