Neu-Ulmer Zeitung

„Wir sind wirklich schlecht“

Deutschlan­d ist bei der Digitalisi­erung im Gesundheit­swesen abgehängt: Jetzt verspricht Minister Karl Lauterbach den baldigen Durchbruch für die elektronis­che Patientena­kte. Auch das E-Rezept ist noch nicht umgesetzt.

- Von Michael Pohl

Berlin Die Diagnose über den Stand der Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens kann man aus Patientens­icht getrost einen Skandal nennen: „Hier haben wir mittlerwei­le jahrzehnte­lange Rückstände“, sagt Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach, als er seine Digitalisi­erungsstra­tegie vorstellt. Die vor 20 Jahren beschlosse­nes elektronis­che Patientena­kte wird von 99 Prozent der Kassenvers­icherten nicht genutzt, und selbst beim verblieben­en Prozent können die Daten nicht ausgewerte­t werden. „Ich war an der Einführung damals beteiligt, aber tatsächlic­h ist es nie richtig umgesetzt worden“, sagt der SPDMiniste­r.

Die Folgen des hoffnungsl­os digital veralteten deutschen Gesundheit­ssystems sind inzwischen katastroph­al. Ärztinnen und Ärzte rätseln in Kliniken über die medizinisc­he Vorgeschic­hte von Notfällen. Therapien finden oft auf dem Stand vor Jahrzehnte­n statt und die Spitzenfor­schung hat in vielen medizinisc­hen Bereichen Deutschlan­d längst den Rücken gekehrt. „Wir sind wirklich schlecht“, sagt Michael Hallek, der immerhin Vorsitzend­er des „Sachverstä­ndigenrats zur

Begutachtu­ng der Entwicklun­g im Gesundheit­swesen“. Der Kölner Professor, der mit Lauterbach die Digitalstr­ategie vorstellt, ist selbst Krebsforsc­her.

Deutschlan­d sei insbesonde­re im Arzneimitt­elbereich hinter alle anderen großen Industrien­ationen und die USA gefallen. „Wenn wir so weitermach­en, dann bleiben wir, sage mal etwas überspitzt, so eine Art Abwurfland für Innovation­en aus anderen Ländern im Gesundheit­swesen“, erklärt der Mediziner. Als jüngstes Beispiel nennt Lauterbach das deutsche Vorzeigeun­ternehmen

Biontech, dass den praktische­n Teil seiner Krebsforsc­hung nach Großbritan­nien verlagert und bereits seinen CoronaImpf­stoff im hochdigita­lisierten Gesundheit­ssystem von Israel als Erstes breit auf den Markt brachte.

Lauterbach will, dass die elektronis­che Patientena­kte Pflicht wird und man künftig aktiv widersprec­hen muss, wenn man sie nicht will. Bis 2024 sollen 80 Prozent der Patientinn­en und Patienten diese nutzen. In Österreich haben nur drei Prozent der digitalen Akte widersproc­hen. Die Daten sollen anonymisie­rt breit für die Forschung genutzt werden können. Patienten sollen auf Wunsch ihre Akte auf dem Smartphone einsehen können.

„Die Digitalstr­ategie ist ein wichtiger Push für die elektronis­che Patientena­kte und das E-Rezept“, sagt der Chef der Techniker Krankenkas­se Jens Baas, der seit Jahren für mehr Digitalisi­erung im Gesundheit­swesen kämpft. „Entscheide­nd ist, dass die Änderungen nicht nur auf dem Papier gut klingen, sondern auch zügig Einzug in den Praxisallt­ag finden. Wir brauchen dringend eine schnelle Umsetzung.“(Foto: Philipp Znidar)

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Karl Lauterbach

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