Der Mann hinter der Münsterkrippe
Martin Scheibles bekanntestes Werk dürfte inzwischen die Münsterkrippe sein. Die Rassismusdebatte dazu spaltete die Stadt. Doch wer war der Mann, der heute vor 150 Jahren geboren ist.
Ulm Würde man Menschen nach dem Bildhauer Martin Scheible fragen – man erhielte vermutlich überwiegend Antworten, die sich auf den Ulmer Krippenstreit beziehen. Scheibles Name wurde dadurch weit über die Region hinaus bekannt. In seinem Melchior, der mit dem Rest der Krippe bis 2019 jedes Jahr an Weihnachten im Münster zu sehen war, erkennen viele Betrachterinnen und Betrachter rassistische Züge. Welch umfangreiches Werk der Maler und Bildhauer aber in der Zeit seines 81 Jahre währenden Lebens schuf, ist den wenigsten bekannt. Scheible, dessen Ehe mit seiner Frau Emilie kinderlos blieb, wurde am heutigen 10. März vor 150 Jahren in Neu-Ulm geboren.
Die Ulmerin Käthe Schmid-Häge erinnert sich kaum noch an ihren Großonkel Martin Scheible, der seine Werke mit „JMS“, also mit den Anfangsbuchstaben seines vollständigen Namen Johann Martin Scheible signierte. Sie war drei Jahre alt, als der Großonkel starb; ihre eigene Oma Anna Schmid, Ehefrau des Ulmer Dreikönigscafé-Konditors Georg Schmid, war die Schwester von Scheibles Ehefrau Emilie, „Mile“genannt. Weil die beiden Schwestern, Töchter des Ulmer Metzgers Bühler, einander recht nahe standen, verwundert es nicht, dass sich auch Johann Martin Scheible öfter im Dreikönigscafé an der Frauenstraße aufhielt. Es gibt ein spätes Selbstbildnis Scheibles, das er der Signatur zufolge im Café schuf und das ihn als älteren Mann zeigt – in einem blauen Bauernkittel, wie man ihn auf der Schwäbischen Alb trug, und den er beim Arbeiten stets getragen haben soll.
Viele der Menschen aber, die Scheible auf seinen Ölgemälden und Zeichnungen darstellte, sind ziemlich elegant oder auch karnevalesk gekleidet – und gern zeigte er sie an Caféhaus- und Restauranttischen, bei Wein und Kartenspiel, und ebenso gern Besucherinnen und Besuchern einer Kunstausstellung. Wie viele von diesen Ölgemälden und Zeichnungen sie geerbt hat, weiß Käthe SchmidHäge, die im Gebäude des früheren Dreikönigscafés aufwuchs, nicht. Eines aber ist klar: Johann Martin Scheible muss ein Mensch gewesen sein, der von morgens bis abends arbeitete. Und einer, der selbst während Sitzungen der Künstlergilde, die er 1919 mitgegründet hatte, oder beim Lesen eines Buches zeichnete. Skizzen belegen das: Im Buch „Das Abschiedskonzert“von Alfons von Czibulka, das
Scheible gehörte, findet sich zum Beispiel passend die signierte Zeichnung eines Geigers.
Wer wohl all jene Personen seines Umfelds gewesen sind, die Scheible mit ganz charakteristischen Zügen, wiedererkennbar auf verschiedenen Werken, verewigte? Scheible soll erst relativ spät begonnen haben, mit Stift und Ölfarben zu arbeiten, insofern dürften die meisten Menschen seiner Bilder in den 30er- bis 50er-Jahren gemalt und gezeichnet worden sein. Immer wieder sind es Musiker und Sänger, und es dürften Ulmer Persönlichkeiten sein, die da an Wirtshaustischen sitzen. Faszinierten Scheible Gasthausbesucher so, weil er selbst das erste Kind eines Neu-Ulmer Gastwirts war? Sein Lebensweg war der
Wirtberuf ja nicht – bereits mit 13 Jahren begann Johann Martin Scheible eine Ausbildung als Steinmetz in Ulm, als 16-Jähriger ging er nach München und dann nach Berlin. In München studierte er zwischen 1898 und 1900 an der Akademie für Bildende Künste, hatte ein Atelier und beteiligte sich Anfang des 20. Jahrhunderts an den Ausstellungen der Münchner Secession, die sich gegen die konservative Ausstellungspolitik jener Zeit wehrte.
Wer genau hinschaut, entdeckt gerade in den Ölgemälden und den – selten farbig ausgeführten – Zeichnungen Scheibles den hintergründigen Witz, für den ihn seine Zeitgenossen schätzten: Auf einem Gemälde beäugen vier nicht mehr ganz junge Herren kritisch-schockiert ein Gemälde, das eine nackte Schöne zeigt. Auf einem anderen spiegelt sich eine Bedienung im roten Kleid in einem verglasten Gemälde an der Wand eines Gastraumes – die einzige weibliche Person, denn am Tisch sitzen acht Honoratioren beim Wein.
Privat zog es Scheible nach Ulm, wo er 1905 heiratete, und wo er in einem großzügigen Haus an der Stuttgarter Straße mit Werkstatt lebte. Kunstbeauftragter der württembergischen Landeskirche und Mitglied einer Freimaurer-Loge war er, beschrieben wird er als ruhiger, bescheidener Mensch, der genau beobachtete, der auch Gedichte schrieb, und einer, über den es viele Anekdoten gibt wie die, dass der im Alter sehr schwerhörig gewordene Künstler ein antiquiertes Hörrohr benutzte, bis man ihn endlich überreden konnte, ein Hörgerät zu nutzen. Jetzt wisse er erst, wie seine „Mile“schimpfen könne, soll Scheible da gesagt haben.
Bekannter als Scheibles Zeichnungen und Gemälde sind seine Bildhauer-Arbeiten, von denen es in Ulm und Neu-Ulm eine ganze Reihe gibt, unter anderem aber auch in Stuttgart, in Illertissen, Reutlingen, Isny oder Kusterdingen. Fürs Ulmer Münster schuf Martin Scheible 1951 die Reliefs der Kanzel. Ein Taufstein, gearbeitet für die dann kriegszerstörte Dreifaltigkeitskirche, steht in der Pauluskirche, und zwischen 1926 und 1928 war Scheible mit der Ausgestaltung der in jenen Jahren erbauten Martin-Luther-Kirche beauftragt.