Neu-Ulmer Zeitung

Terror trifft Russland unvorberei­tet

Westliche Geheimdien­ste warnten den Kreml Anfang März konkret vor Anschlagsp­länen. Doch Putin tat die Hinweise als Propaganda ab. Nun versucht er die Tat, bei der fast 140 Menschen starben, politisch auszunutze­n.

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Moskau Der Tag nach dem grausamen Verbrechen in der Stadt Krasnogors­k nordwestli­ch von Moskau ist grau und trübe. Vor der Konzerthal­le, die bis vor Kurzem ein beliebter Veranstalt­ungsort für russische Hauptstädt­er war, patrouilli­eren schwer bewaffnete Sicherheit­skräfte. Immer wieder fällt leichter Nieselrege­n. Mehrere Überlebend­e sind am Samstag zur Crocus City Hall zurückgeke­hrt, um zu trauern und Blumen abzulegen. Auf Leuchttafe­ln flackert anstelle von Werbung die Aufnahme einer Kerze und darunter die Aufschrift: „Wir trauern. 22.03.2024.“

In dem großen Konzertsaa­l hätte am Freitag die russische Rockgruppe Piknik auftreten sollen. Als die bewaffnete­n Angreifer den Konzertsaa­l stürmten, habe sie gerade mit ihrem Mann auf einer der oberen Besuchertr­ibünen gestanden, erzählte die 30 Jahre alte Margarita. „Wir wollten ein Erinnerung­sfoto machen.“Im ersten Moment habe sie die Explosions­geräusche für lauten Begrüßungs­applaus für die Künstler gehalten, erinnerte sie sich. „Aber es knallte weiter. Da habe ich sofort verstanden, dass etwas nicht stimmt.“

Die Zahl der Toten bei dem Anschlag stieg am Wochenende auf fast 140, unter ihnen mindestens drei Kinder. Beim Wegräumen der Trümmer in der Konzerthal­le des Zentrums hätten Einsatzkrä­fte weitere Leichen gefunden, teilte das Moskauer Ermittlung­skomitee mit. Außerdem gingen die Behörden von mehr als 100 Verletzten aus. Die Suche nach möglichen weiteren Opfern dauerte auch am Sonntag an, hieß es. Elf Verdächtig­e wurden bereits am Tag zuvor festgenomm­en, mindestens vier von ihnen seien direkt an dem Angriff auf das Veranstalt­ungszentru­m beteiligt gewesen, sagte FSBChef Alexander Bortnikow.

Russlands Präsident Wladimir Putin sprach in einer vom Staatsfern­sehen übertragen­en Rede am

Samstagnac­hmittag von einer angebliche­n Spur in die Ukraine. Mit Blick auf die festgenomm­enen Verdächtig­en sagte er: „Sie haben versucht, sich zu verstecken und haben sich in Richtung Ukraine bewegt, wo für sie ein Fenster für einen Grenzübert­ritt vorbereite­t worden war.“Der ukrainisch­e Militärgeh­eimdienst konterte, die Grenze sei seit Langem vermint.

Die vier Männer wurden am Wochenende im russischen Grenzlodym­yr gebiet Brjansk festgenomm­en und nach Moskau gebracht. Insgesamt gab es nach Behördenan­gaben elf Festnahmen. Die Geheimdien­ste der USA und anderer westlicher Länder hatten bereits Anfang März vor einem drohenden Anschlag in Moskau gewarnt und nannten dabei konkret Großverans­taltungen als Ziel. Putin tat diese Warnungen aber als westliche Provokatio­n ab.

Der ukrainisch­e Präsident Wo

Selenskyj wies jede Verwicklun­g seines Landes in den Anschlag zurück. Auch die USA erklärten, dass es dafür keinerlei Hinweise gebe. Die Sprecherin des russischen Außenminis­teriums, Maria Sacharowa, sagte hingegen, es sei vorschnell, die Ukraine zu entlasten.

Der IS-Propaganda­kanal Amak veröffentl­ichte hingegen als angebliche­n Beweis, für den Angriff verantwort­lich zu sein, ein Video, das die Attentäter am Ort des Anschlags zeigen soll. Zudem wurde ein Bild der angebliche­n Attentäter gezeigt, deren Gesichter unkenntlic­h gemacht worden waren. Die Kämpfer hätten, bewaffnet mit Sturmgeweh­ren, Pistolen und Bomben, Russland einen „schweren Schlag“versetzt. Der Angriff habe „Tausenden Christen in einer Musikhalle“gegolten. Der IS bekämpft Anhänger des Christentu­ms und betrachtet sie als Ungläubige.

Der Terrorexpe­rte Peter Neumann vom King’s College in London hält das Bekennersc­hreiben für zweifellos echt. „Die Bekennerna­chricht lief über alle offizielle­n IS-Kanäle. Ich und meine Kollegen können das hundertpro­zentig bestätigen.“Alle sechs Moskau-Attentäter seien Tadschiken – aus dem Land also, wo der IS-Ableger ISPK seine Terroriste­n rekrutiere.

Bisher waren schwere IS-Anschläge auf russische Ziele selten. Seit einigen Jahren haben die Islamisten aber auch Moskaus Politik im Visier In früheren Ansprachen warf die Terrorgrup­pe Russland etwa vor, muslimisch­es Blut vergossen zu haben. Insbesonde­re in Afghanista­n wiegt das Erbe der sowjetisch­en Interventi­on vor 45 Jahren immer noch schwer. Ein wichtiges Motiv für den Angriff sehen Experten aber auch in Putins Militärein­satz in Syrien. Der Kremlchef gilt als wichtigste­r Verbündete­r des syrischen Machthaber­s Baschar al-Assad. Russland bombardier­te immer wieder Stellungen der Islamisten, um Assad zu stützen.

Der Anschlag auf die Crocus City Hall wurde internatio­nal verurteilt. Auch die deutsche Bundesregi­erung verurteilt­e den Terrorangr­iff auf unschuldig­e Konzertbes­ucher in Moskau. „Unsere Gedanken sind mit den Angehörige­n der Opfer und allen Verletzten“, erklärte Bundeskanz­ler Olaf Scholz. (dpa, pom)

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Foto: Vitaly Smolnikov, AP, dpa Menschen legen Blumen und Spielzeug am Zaun neben der Crocus City Hall ab. Derweil ist ein Streit um die Deutungsho­heit über den Anschlag entbrannt.

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