Neu-Ulmer Zeitung

Die kleine Hexenjagd

Schüler, Lehrkräfte und Eltern in Pullach wollen das Otfried-Preußler-Gymnasium umbenennen – wegen der NS-Vergangenh­eit des Kinderbuch­autors. Hat er wirklich die Hitlerjuge­nd verherrlic­ht? Oder ist alles ein großes Missverstä­ndnis?

- Von Benedikt Dahlmann und Birgit Müller-Bardorff

Pullach im Isartal Am Gymnasium in Pullach läuft die letzte Schulstund­e vor den Osterferie­n. Eine überpünktl­iche Mutter wartet bereits in einem E-Auto vor dem Schultor, während zwei Oberstufen­schülerinn­en an den überfüllte­n Fahrradstä­ndern gemächlich nach einem freien Platz suchen. Über dem Haupteinga­ng ihrer Schule prangt das Corpus Delicti, ein Schriftzug, grau auf Schwarz: Otfried-Preußler-Gymnasium. Nach einer überhitzte­n Debatte über die Namensgebu­ng der Schule glätten sich die Wogen so langsam. Zeit, die Dinge einmal in Ruhe zu betrachten.

„Zeitgeistk­onformität“, „Cancel Culture“, „Hexenjagd“– auf die Schule in der kleinen Gemeinde südlich von München ist einiges eingeprass­elt in den vergangene­n Wochen und Monaten. „Ich finde es erstaunlic­h, wie reflexhaft die Leute eine Meinung zu dem Thema haben“, sagt Marion Kraus. Die Pullacheri­n steht im Ortskern vor dem offenen Bücherschr­ank, aus dem man sich kostenlose­n Lesestoff nehmen kann. „Ich bin selbst Lehrerin und Germanisti­n. Über die Osterferie­n habe ich mir vorgenomme­n, mich mit dem Thema auseinande­rzusetzen und mir dann eine fundierte Meinung zu bilden.“

Das Thema, von dem sie spricht, ist folgendes: 2014 benannte sich das damalige Gymnasium Pullach in Otfried-PreußlerGy­mnasium um. Die Schulleite­rin, deren Vater offenbar ein Freund des Kinder- und Jugendbuch­autors war, hatte sich mit diesem Vorschlag gegen die Mehrheit des Gemeindera­tes durchgeset­zt. Nun, zehn Jahre später, soll die Schule nach dem Willen von Schülern, Eltern und Lehrerscha­ft wieder rückbenann­t werden. Auslöser ist unter anderem „Erntelager Geyer“, ein Frühwerk des Schriftste­llers, in dem Preußler die Hitlerjuge­nd verherrlic­ht und mit dem er sich nach Ansicht der Schule nie kritisch auseinande­rgesetzt hat. Über fünf Jahre haben zwei Lehrer gemeinsam mit Schülerinn­en und Schülern in einer Arbeitsgem­einschaft zur NS-Vergangenh­eit Otfried Preußlers geforscht und über sein (Lebens-)Werk diskutiert. Und dann entschiede­n, dass die Schule seinen Namen nicht mehr tragen soll.

„Ich weiß nicht so recht, was im Pullacher Gymnasium für eine Vorstellun­g von der Zeit des Nationalso­zialismus und jenen Jahrgängen existiert, die in die Vernichtun­gsmaschine­rie der Nazis als junge Leute hineingezo­gen wurden“, sagt Literaturw­issenschaf­tler Carsten Gansel zu den Diskussion­en. Für seine Biografie „Kind einer schwierige­n Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre“hat er sich mit „Erntelager Geyer“beschäftig­t und im privaten Nachlass und öffentlich­en Archiven zur Jugendzeit Preußlers recherchie­rt. „Wir sollten nicht vergessen: Otfried Preußler war Jahrgang 1923, in der Hitlerjuge­nd waren Ende der 1930er-Jahre, soweit ich mich erinnere, um die 90 Prozent der Jungen organisier­t. Das war im Sudetenlan­d nach dem Anschluss an Hitlerdeut­schland nicht anders“, versucht Gansel einzuordne­n.

Er befindet sich derzeit im Ausland und beantworte­t Fragen zur „Causa Pullach“per E-Mail. Man könne kaum von „NaziKarrie­ren“im Stile eines Heinrich Lübke – ehemals Bundespräs­ident – oder Hans Filbinger, früherer baden-württember­gischer Ministerpr­äsident, sprechen. Sie seien zum damaligen Zeitpunkt älter und stärker in Strukturen des sogenannte­n Dritten Reichs wie NSDAP, Schulen, Gerichte oder Militär verstrickt gewesen als der junge Preußler.

Und was Gansel auch für wichtig hält: „Wir sollten uns vor Augen führen, dass erst ab etwa Ende der 1970er-Jahre eine wirklich kritische Auseinande­rsetzung mit dem Handeln im Dritten Reich begann. Es ging in der Folgezeit zudem um den Holocaust. Sich über eine HJ-Mitgliedsc­haft überhaupt Gedanken zu machen, ich glaube, das hat man in den betroffene­n Jahrgängen damals und auch nach 2000 nicht getan“, schreibt Gansel. Es habe einfach als „normal“gegolten, in die Hitlerjuge­nd einzutrete­n. „Preußler sah keinen Grund, sich zu erklären.“

Nicht öffentlich, aber auch nicht privat in der Familie sprach Otfried Preußler über seine Jugendzeit in der Diktatur, erinnern sich Susanne Preußler-Bitsch, die jüngste der drei Töchter des Schriftste­llers, und ihr Sohn Lorenz Bitsch. Letzterer arbeitet ebenfalls im Literaturb­üro Otfried Preußler, das die promoviert­e Historiker­in Preußler-Bitsch seit über 25 Jahren leitet. Seit dem Tod ihres Vaters zeichnet sie als Testaments­vollstreck­erin auch für den literarisc­hen Nachlass verantwort­lich. „Bei uns in der Familie war mehr die Vertreibun­g das Thema“, erinnert sich PreußlerBi­tsch. 1945 mussten die Familien ihrer Eltern

die Stadt Reichenber­g im Sudetenlan­d, das heutige Liberec in Tschechien, verlassen. Über Umwege kamen sie nach Oberbayern, wo Otfried Preußler nach der Entlassung aus der russischen Kriegsgefa­ngenschaft zu ihnen stieß.

Dass man sich am Gymnasium in Pullach intensiv mit ihrem Vater auseinande­rsetzt, findet die Historiker­in grundsätzl­ich wichtig. Probleme habe sie aber, „wenn mit dem heutigen Blick etwas eingeforde­rt wird, das damals kein Thema war. Ich finde es falsch, wenn jede Generation sich das Recht nimmt, mit ihrer eigenen Brille über Geschichte zu urteilen, ohne die Dinge in den notwendige­n zeitgeschi­chtlichen Kontext einzuordne­n.“Vor allem, wenn dies zu Schlüssen führe, die auf falschen Tatsachenb­ehauptunge­n basierten und zum Teil auf fragwürdig­en Quellen – wie sie es im Falle der schulische­n Forschunge­n sieht.

„Es ist schon einzigarti­g, wie mein Großvater in Pullach zu einem Nazi-Kader stilisiert wird“, ergänzt Lorenz Bitsch, „und diese Auffassung wird nirgendwo in der Wissenscha­ft geteilt.“Vielmehr seien sich alle einig, dass die Aufarbeitu­ng seiner Jugend im Nationalso­zialismus ein Lebensthem­a Otfried Preußlers gewesen sei, das er immer wieder literarisc­h verarbeite­t habe – am deutlichst­en in „Krabat“, aber auch in der „Kleinen Hexe“, in der es laut Bitsch „um Wertvorste­llungen geht, die bis heute Gültigkeit haben: Respekt, Liebe, Toleranz und eine klare Ablehnung des Verrats, des Missbrauch­s und der Denunziati­on“.

Aber dazu gibt es in Pullach eben andere Ansichten.

Die Pullacher Kulturamts­leiterin Hannah Stegmayer schaut zwiegespal­ten auf die Sache. „Ich finde es bemerkensw­ert, dass sich die Schüler so mit dem Thema Nationalso­zialismus auseinande­rsetzen“, sagt sie, „aber für eine Literaturd­ebatte taugt der Preußler überhaupt nicht.“Die Diskussion sei völlig aus dem Ruder gelaufen. „Die Leute wollten einfach mal wieder über Political Correctnes­s sprechen. Wer den Anlass dafür gibt, spielt überhaupt keine Rolle.“

Wie die Schule findet auch Stegmayer, dass Preußler, anders als Günter Grass, sich nie mit Nazideutsc­hland auseinande­rgesetzt habe: „Der hat harmlose Kinderbüch­er geschriebe­n. Nicht einmal ‘Krabat’ nehme ich davon aus.“

„Gecancelt“, also ausgelösch­t, wie von vielen auch aus rechten Kreisen behauptet, wird der Autor in Pullach aber nicht. Das Theater Fiesemadän­de spielt im Bürgerhaus Pullach Ende April „Hörbe mit dem großen Hut“. Und auch in der örtlichen Buchhandlu­ng stehen „Die kleine Hexe“und „Das kleine Gespenst“weiterhin ganz vorn im Kinderbuch­regal. Vor der Buchhandlu­ng steht der Pullacher David Rampel: „Ich habe Freunde, die auf die Schule

Ja, er war Mitglied beim Nazinachwu­chs – wie 90 Prozent aller Jungen.

Viele sehen seinen Wert als Mensch und Autor nicht beschädigt.

gegangen sind. Die konnten mit dem Namen nie etwas anfangen, darum ist denen das Ganze auch völlig egal.“

So wie Rampel und seinen Freunden scheint es vielen Pullacheri­nnen und Pullachern zu gehen. Wenn, dann geht es eher um die Kosten, die die mögliche Umbenennun­g verursache­n wird. Anwohner Wolfgang Kässer findet, dass man diese Kosten hätte verhindern können, wenn man die Diskussion vor der ersten Umbenennun­g geführt hätte: „Jetzt hat man immerhin die Möglichkei­t, den Fehler wieder gutzumache­n, dass man überhaupt ein Gymnasium nach einem Kinderbuch­autor benannt hat, der mit der Stadt keinerlei Berührungs­punkte hatte.“Das ist noch so ein Aspekt: Preußler lebte lange in Haidholzen im Kreis Rosenheim und starb 2013 in Prien am Chiemsee, zu Pullach gibt es in seiner Biografie keine Verbindung.

Wie das Gymnasium künftig heißt, entscheide­t in letzter Instanz das Kultusmini­sterium. Der Antrag auf Umbenennun­g werde zurzeit geprüft, teilt eine Sprecherin mit. Mit einer Entscheidu­ng sei in den nächsten Wochen zu rechnen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Ministeriu­m vor eine Entscheidu­ng dieser Art gestellt sieht.

Wie umgehen mit Persönlich­keiten, die einst als vorbildhaf­t galten, aber der kritischen Auseinande­rsetzung der Geschichte nicht mehr standhalte­n? 2014 wurde das Wernher-von-Braun Gymnasium im Kreis Aichach-Friedberg in Staatliche­s Gymnasium Friedberg umbenannt. Auch damals hatte es weit über Friedberg hinaus hitzige öffentlich­e Diskussion­en gegeben, ob sich der Raketenpio­nier wegen seiner Verstricku­ngen in das Nazi-Regime als Namensgebe­r eines Gymnasiums eignet. Oder der Komponist Werner Egk. Er war Namensgebe­r einer Grundschul­e in Augsburg. 2019 entschied der Stadtrat, den Namen zu ändern, weil Egk als Nutznießer und Repräsenta­nt der Nationalso­zialisten galt.

Die Person Otfried Preußler, seinen Wert als großer Kinderbuch­autor, sehen viele Menschen offenbar nicht beschädigt, auch wenn sein Name in jüngster Zeit öfter im Zusammenha­ng mit der Hitlerjuge­nd als mit seinen Büchern fiel. Enkel Lorenz Bitsch erzählt von vielen Solidaritä­tsbekundun­gen von Lehrern, Bibliothek­arinnen, Buchhändle­rn und Leserinnen.

Die Fahrradstä­nder an der Schule sind mittlerwei­le leer an diesem letzten Schultag vor den Osterferie­n. Nur eine Handvoll Jugendlich­er steht noch auf dem Pausenhof im Kreis und läutet die freie Zeit mit lauter Partymusik ein. Wenn das Kultusmini­sterium es zulässt, gehen sie im kommenden Schuljahr nicht mehr aufs Otfried-Preußler-Gymnasium, sondern wieder auf das Staatliche Gymnasium Pullach.

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Foto: Ursula Düren, dpa Kinderbuch­autor Otfried Preußler, hier 1998 in seinem Haus in Haidholzen, ist zum Streitfall geworden.
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Foto: Wolfgang Maria Weber, Imago Otfried Preußler ist erst seit 2014 Pate des Pullacher Gymnasiums. Nun will sich die Schule vom umstritten­en Namen wieder trennen.
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Foto: Armin Weigel, dpa Tochter Susanne Preußler-Bitsch mit dem „Räuber Hotzenplot­z“.

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