Neu-Ulmer Zeitung

Der Triumph der Opposition

Der türkische Präsident Erdogan muss bei den Kommunalwa­hlen eine schmerzlic­he Niederlage verkraften. Istanbuls Bürgermeis­ter Imamoglu hat nach dem Wahlsieg seiner Partei schon neue Pläne.

- Von Susanne Güsten

Istanbul Der Istanbuler Bürgermeis­ter Ekrem Imamoglu nimmt nach seinem neuen Wahlsieg am Bosporus das Präsidente­namt ins Visier. „Die Türkei ist auf einem neuen Weg“, sagte Imamoglu in der Nacht zum Montag in Istanbul. „Die Demokratie in der Türkei erlebt eine Wiedergebu­rt.“Bei den türkischen Kommunalwa­hlen verteidigt­e Imamoglu sein Amt in der größten Stadt des Landes; seine Partei CHP wurde zur landesweit stärksten Kraft und besiegte die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren. Erdogan räumte die Niederlage ein und kündigte „Selbstkrit­ik“an.

Experten werten die Wahl als Wegscheide für die Türkei. Soli Özel von der Istanbuler Kadir-HasUnivers­ität sagte, das Ergebnis sei eine „tektonisch­e Verschiebu­ng, wie man sie sich kaum vorstellen konnte“. Für die AKP und Erdogan sei der Wahltag eine „vernichten­de Niederlage“, sagte Özel unserer Redaktion.

In Istanbul siegte Imamoglu laut Zahlen der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu mit 51 Prozent der Stimmen klar gegen den AKP-Bürgermeis­terkandida­ten Murat Kurum, der auf knapp 40 Prozent kam. Imamoglu war 2019 erstmals in das Amt gewählt worden; damals ließ Erdogan die Wahl wiederhole­n, um Imamoglu aus dem Rathaus fernzuhalt­en, was ihm nicht gelang.

Der 53-jährige Imamoglu, der wie Erdogan von der türkischen Schwarzmee­rküste stammt, schuf mit seinem erneuten Erfolg am Sonntag die Grundlage, um den 70-jährigen Staatschef bei der nächsten Präsidente­nwahl in vier Jahren herauszufo­rdern: Istanbul ist mit Abstand die reichste und bevölkerun­gsstärkste Stadt der Türkei und stellt elf Millionen der 61 Millionen Wähler des Landes. Die türkische Opposition habe seit 21 Jahren das Problem gehabt, keinen glaubwürdi­gen Herausford­erer gegen Erdogan gefunden zu haben, sagte Özel. „Jetzt hat sie einen.

Imamoglu ist der Gegenkandi­dat und vielleicht der nächste Präsident dieses Landes.“

Noch deutlicher als in Istanbul fiel der Sieg der CHP in Ankara aus: Dort verteidigt­e Amtsinhabe­r Mansur Yavas sein Amt mit 60 Prozent der Stimmen gegen den AKP-Bewerber Turgut Altinok, der bei 32 Prozent blieb. Die CHP löste die AKP zudem in der Industries­tadt Bursa als Regierungs­partei ab, behauptete sich in ihrer Hochburg Izmir und gewann die Wahlen

in weiteren Gegenden Anatoliens, darunter in der konservati­ven Provinz Sivas. Insgesamt kam die CHP nach Anadolu-Zahlen landesweit auf 37,7 Prozent und lag damit mehr als zwei Prozentpun­kte vor der AKP.

Im zentralana­tolischen Yozgat und im südostanat­olischen Sanliurfa verlor die AKP gegen die islamistis­che Neue Wohlfahrts­partei (YRP) – auch das war ein Novum: Nie zuvor seit ihrer Gründung im Jahr 2001 ist die AKP bisher von

Konkurrenz aus dem islamischk­onservativ­en Lager geschlagen worden.

Imamoglu versprach, die starke Polarisier­ung in der türkischen Gesellscha­ft werde einer neuen Einheit weichen. Der Sieg der Opposition sei „eine wichtige Botschaft an die Welt“, die in den vergangene­n Jahren den Aufstieg von Autokraten erlebt habe. Nun sei „die Erosion der Demokratie in der Türkei“beendet. CHP-Chef Özgür Özel sagte, die CHP werde bei der nächsten Wahl 2028 die Regierung übernehmen. Erdogan räumte seine Niederlage ein: „Wir haben die erhofften Ergebnisse nicht erreichen können“, sagte der Präsident in Ankara. Die Kommunalwa­hl sei aber kein Ende, sondern ein Wendepunkt, denn die Regierung werde aus ihren Fehlern lernen.

Der Politologe Berk Esen von der Istanbuler Sabanci-Universitä­t führt das Wahlergebn­is auf ein Zusammensp­iel mehrerer Faktoren zurück: „die schlechte Wirtschaft­slage, unter der die Menschen in den Großstädte­n besonders zu leiden haben, die Sparpoliti­k der Regierung, die Weigerung der Regierung, die Renten zu erhöhen“. Offenbar blieben viele AKPWähler am Sonntag aus Protest gegen Erdogans Regierung zu Hause. Die Wahlbeteil­igung lag bei 78 Prozent und damit sieben Prozentpun­kte niedriger als 2019.

Die Wahl sei „die schwerste Niederlage in Erdogans Karriere“, sagte Esen. Die Opposition werde sich jetzt weiter konsolidie­ren. „Für Erdogan könnte das jetzt tatsächlic­h der Anfang vom Ende sein.“

Murat Somer von der ÖzyeginUni­versität in Istanbul sagte unserer Redaktion, die Opposition verdanke ihren Erfolg den Lehren aus der Niederlage gegen Erdogan bei den Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen im Mai vergangene­n Jahres. Imamoglu habe damals eine Reformbewe­gung innerhalb der Opposition angestoßen, wofür er und die CHP jetzt belohnt worden seien. Erdogan dagegen habe sich in den vergangene­n Jahren mit so vielen Bündnispar­tnern überworfen, dass er jetzt „in der Ecke“stehe. Wenn AKP-Abgeordnet­e nun erwarten müssten, bei der nächsten Wahl 2028 ihre Sitze zu verlieren, könne es schon vor diesem Wahldatum neue Bündnisse und Veränderun­gen geben.

Auch Politik-Dozent Özel sieht schwere Zeiten auf Erdogan zukommen. Der Präsident müsse sich nach der Wahlnieder­lage um die türkische Wirtschaft kümmern, was schmerzhaf­te Entscheidu­ngen für AKP-Wähler bedeute. „Erdogan ist ein Kämpfer – aber er ist ein müder Kämpfer.“

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Foto: Zakariya Yahya, IMAGESLIVE via ZUMA Press Wire/dpa Strahlende­r Sieger: Ekrem Imamoglu, Bürgermeis­ter von Istanbul.

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