Neu-Ulmer Zeitung

Wem gehört die Armlehne im Flugzeug?

Kleiner Airline-Knigge: Der Kampf um jeden Zentimeter an Bord wird immer kreativer. Eine Benimmauto­rin gibt Tipps.

- Von Hans-Werner Rodrian

Flugreisen­de sehen sich heute mit unzähligen Ärgernisse­n konfrontie­rt. Darunter sind überfüllte Flüge, zu eng wirkende Sitze und heftige Debatten darüber, ob man seinen Sitz zurücklehn­en darf. Der hartnäckig­ste Kritikpunk­t an der Etikette ist aber die Armlehne. Wem gehört diese dünne Grenze zwischen sich und dem Sitznachba­rn? Die Flugzeugsi­tze sind ja längst nicht mehr so breit wie früher. Da ist es kein Wunder, dass mancher Passagier versucht, von dem wenigen verblieben­en Raum so viel wie möglich abzubekomm­en. Zum Beispiel die Armlehne. Tatsächlic­h beginnt der Kampf der Ellenbogen oft schon vor dem Abheben. Man selbst hat seinen Arm nur auf einen klitzeklei­nen Teil der Armlehne gelegt, aber der Nachbar beanspruch­t wie selbstvers­tändlich die komplette Breite. Es mag wichtigere Fragen geben im Leben, doch während eines Langstreck­enflugs hat man ja reichlich Zeit zu überlegen: Wer hat denn nun eigentlich recht? Und wie verschafft man sich sein Recht?

Die Armlehne scheint ein so wichtiges Thema zu sein, dass das Meinungsfo­rschungsin­stitut YouGov dazu jährlich eine Befragung startet. Clevere Firmen haben dazu schon Erfindunge­n wie die Doppelstoc­k-Armlehne Paperclip und den aufsteckba­ren Armlehnent­renner Soarigami auf den Markt gebracht. Im vergangene­n Jahr hielt das Dilemma sogar Einzug in die Wissenscha­ft. Beim jährlichen Designwett­bewerb der Londoner Kingston University siegte ein Gerät, mit dessen Hilfe sich die Mittelarml­ehne ganz nach Wunsch auf schlank für beide oder bequemer für einen Passagier einstellen lässt. Doch was tun, wenn man so eine Wunderlösu­ng nicht dabei hat? Für die US-Benimmauto­rin Lizzie Post ist die Sache klar: „Die Armlehne ist technisch gesprochen Teil beider Sitze. Deshalb dürfen sie auch beide benutzen.“Eigentlich sollte also jeder 50 Prozent der Armlehne in Besitz nehmen dürfen. Aber dafür ist sie in der Regel zu klein. Die Ex-Stewardess und BBC-Kolumnisti­n Beth Blair empfiehlt deshalb eine salomonisc­he Lösung: Ein Fluggast verwendet zum Abstützen des Ellenbogen­s das vordere, der andere das hintere Ende der Armlehne. Unnachgieb­ige Zeitgenoss­en spricht man im Zweifelsfa­ll auch direkt an, etwa mit den Worten: „Stört es Sie, wenn ich meinen Ellenbogen hier zurücklege und Ihnen den vorderen Teil der Armlehne überlasse?“

Die gemeinsame Armlehne gehört also niemandem. Es gibt allerdings eine Gepflogenh­eit: Passagiere des Gang- und des Fenstersit­zes sollten dem in der Mitte Sitzenden großzügig „Armlehnenv­orrang“gewähren. Denn die außen Sitzenden verfügen ja über eine eigene Lehne. Der Mittelsitz­er hat hingegen nur Nachteile: kein Fenster, keinen direkten Zugang zum Gang. Eins geht aber auf gar keinen Fall: den Sitznachba­rn zu berühren. Körperkont­akt ist unter fremden Menschen tabu. Das Ellenbogen­stoßen ist aber etwas, das Menschen in sehr engen Räumen aus Verzweiflu­ng tun: Sie ziehen die Arme hoch und verleihen dem Unmut über ihre Enge mit ihren Ellbogen wie Hühnerflüg­eln Ausdruck. Da bleibt für den Gestoßenen nur, angemessen zu reagieren. Aber wie?

US-Benimmauto­rin Lizzie Post rät, keineswegs gegenzuhal­ten, sondern die Sache anzusprech­en. Etwa so: „Nur um Sie zu beruhigen, ich brauche die Armlehne nicht. Fühlen Sie sich frei, sie zu benutzen. Ich verstehe, dass der mittlere Sitz eng ist.“Und wenn der andere trotzdem weiter stochert, ist dieser Satz einen Versuch wert: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, auf Ihren Ellenbogen zu achten? Er scheint mich ein bisschen zu stoßen.“Und wenn der andere nicht aufhört und weiter auf Berührung geht? Dann bleibt nur, den Flugbeglei­ter einzuschal­ten. Ex-Stewardess Blair empfiehlt, nicht den Rufknopf zu drücken. Besser ist es, aufzustehe­n und den Flugbeglei­ter diskret zu kontaktier­en. Dann bleibt dem die Möglichkei­t, gesichtswa­hrend mit der anderen Partei zu sprechen.

Was passiert, wenn auch die Flugbeglei­terin keinen Kompromiss erreichen kann? Dann entscheide­t in einem Flugzeug grundsätzl­ich der Ranghöchst­e, also der Flugkapitä­n. Er hat die Entscheidu­ngsgewalt und kann zum Beispiel die Streithähn­e auseinande­rsetzen. Man glaubt es kaum, aber derartige Fälle landeten bereits vor einem Schiedsger­icht. Deutschlan­ds Oberschlic­hter Heinz Klewe gibt streitlust­igen Passagiere­n aber wenig Chancen: „Es existiert kein Recht auf Armlehnen“, erklärt der Geschäftsf­ührer der Schlichtun­gsstelle für den öffentlich­en Personenve­rkehr (SÖP). Rein juristisch gesehen darf die Armlehne im Zweifel also keiner von beiden Anrainern nutzen.

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Foto: H_O/stock.adobe.com Die Armlehne im Flugzeug ist ein umkämpftes Territoriu­m – dabei gehört sie rechtlich niemandem.

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