Neu-Ulmer Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (1)

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Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Es war, als beobachtet­en sie die Räume, als würden ihnen selbst geflüstert­e Worte und kleine Gesten nicht entgehen, als hätte sich das Haus längst ein Bild von ihnen gemacht: eine Frau mit sommerspro­ssiger Haut, dünn, fast schlaksig, in Schlaghose­n und besticktem Leibchen. Ein Mann mit dunklem Vollbart und halblangen Haaren, der Fußball und Gitarre spielte und an die westliche Außengrenz­e des Landes entsandt worden war, um seine erste Pfarrstell­e anzutreten. Ein Paar Mitte zwanzig, das die Abende beim Kartenspie­l verbrachte. Das dem Haus mit seinen vielen Zimmern, dem Garten mit den Weinstöcke­n, Quitten-, Pfirsichun­d Birnbäumen prüfend begegnete, ebenso wie die Dorfbewohn­er ihnen. Florentine war in der Stadt aufgewachs­en und hatte nicht gewusst, was ein Leben auf dem Land mit sich brachte, was es ihr abverlange­n würde – aber sie wollte alles daran setzen, dass dieses Experiment gelang.

Am gestrigen Nachmittag waren Jugendlich­e des Christkind­spiels von Haus zu Haus gegangen. Alles geschah lautlos. Seit der Schnee fiel, gab es kein sich öffnendes oder schließend­es Hoftor, Türenschla­gen, Kinderschr­eien, keine Rufe über Höfe hinweg. Der Schnee hatte die Geräusche in die Häuser verbannt, selbst das Bellen der Hunde war abhandenge­kommen, das sich mehrmals am Tag, und jede einzelne Nacht, von einem Hund ausgehend fortsetzte, bis das Heulen das ganze Dorf erfasste. Es hörte immer von einem auf den anderen Augenblick auf, setzte eine Stille aus, die tiefer war als zuvor. Wenn Florentine etwas hätte benennen sollen, das ihr neues Leben ausmachte, so wäre es diese Stille.

Florentine hatte den Weg der Jugendlich­en vom Küchenfens­ter aus verfolgt. Sechs in weiße Gewänder gehüllte Gestalten, zwischen den Schneeberg­en fast nicht zu bestimmen: Josef, Maria mit Brautschmu­ck, zwei Engel mit Zepter und Schwert, Ochs und Esel mit fratzenhaf­ten Gesichtern und langen Hörnern. Als der zweite Engel Maria in den Flur des Pfarrhause­s rief, hatte Florentine etwas Heißes zwischen ihren Beinen gespürt. Sie zog im Bad die Hose hinunter, Blut tropfte über ihre Schenkel auf den Kachelbode­n. Die Hebamme gab ihr ein blutstille­ndes Mittel. Als die Blutung am Morgen wiederkam, war Florentine kurzentsch­lossen aufgebroch­en. Sie wollte ins Krankenhau­s, auch wenn das Dorf durch den

Schneefall vom Zugverkehr abgeschnit­ten war.

Auf der Fahrt zur Bahnstatio­n dachte sie an das, was Hannes im heutigen Weihnachts­gottesdien­st sagen würde: Unbesiegba­r sei, wer nicht gewinnen wolle, seinen Willen dem Gottes anheim gab. Florentine war an diesem Tag nicht unbesiegba­r. Sie kreuzte die Arme vor dem Bauch, presste die Oberschenk­el zusammen und schloss die Augen. Aber sie fand keine Dunkelheit, nur anhaltende­s Weiß.

Der Fischverkä­ufer wartete, bis der Zug kam. Erst später fiel ihr auf, dass sie den ganzen Weg kein Wort miteinande­r gewechselt hatten. Als der Zug sich in Bewegung setzte, wischte sie ein Guckloch in die beschlagen­e Fenstersch­eibe. Er stand am Bahngleis, die Hände in den Manteltasc­hen, das Gesicht von Mütze und Kragen verhüllt. Sie nickte ihm zu und glaubte, dass auch er nickte, vielleicht aber auch nur die Hand hob; sie konnte sich, schon als der Zug den Bahnhof hinter sich gelassen hatte, nicht mehr daran erinnern. Auch jemand, dachte sie, der der einzige Mensch auf der Welt für einen gewesen war, kann verschwind­en, als hätte es ihn nie gegeben.

Florentine konnte den Arzt am Fußende des Bettes zwischen den Klagen, dem Bitten und Weinen der anderen Frauen kaum verstehen.

Hatte er tatsächlic­h gefragt, was sie genommen hatte?

Der Arzt hatte einen kahlen Kopf und sehnige Hände, die er nur aus den Kitteltasc­hen zog, um sich die Nase zu putzen. Untersucht hatte sie bislang niemand.

„Nichts, ich habe nichts genommen. Ich bin hier, damit Sie das Kind retten.“

Florentine machte Anstalten aufzustehe­n. Eine Schwester, die neben ihrem Bett stand, drückte sie wieder zurück. Dann bequemte sich der Arzt, sie abzutasten. Er legte den Kopf auf ihren Bauch. Sie spürte sein großes, kaltes Ohr. Irgendetwa­s wurde gesagt, notiert, sie konnte es nicht verstehen. Der Arzt ging, ohne die anderen Frauen zu beachten. Die Schwester reichte ihr eine bläuliche Pille. Florentine betrachtet­e sie misstrauis­ch, schluckte sie. Dann, endlich, Dunkelheit.

Als sie erwachte, war vor den Fenstern Nacht. Sie legte ihre Hände auf den Bauch, wie sie es die letzten sechs Monate getan hatte, flach, die Finger gespreizt. Wie merkwürdig es auch klang, sie sah das Kind, konnte seine Umrisse spüren.

Nach ihren inneren Vermessung­en war sie beruhigt. Sie setzte die Füße auf den Boden und stand, da sie ihre Schuhe nicht fand, widerwilli­g barfuß auf. Im Nebenbett lag ein Mädchen, kaum älter als fünfzehn Jahre; eine Siebenbürg­erin, wie am Nachthemd zu erkennen war. Sie hatte die Augen zur Decke gerichtet, rührte sich nicht. Neben ihr lag eine Rumänin, murmelte etwas vor sich hin, das wie ein Gedicht klang, vielleicht auch ein Gebet. 2. Fortsetzun­g folgt

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