Neu-Ulmer Zeitung

Ist vegane Kost riskant für Kinder?

Weder Fisch noch Fleisch, weder Milch noch Ei – rein pflanzlich­e Ernährung ist sehr angesagt. Allerdings wird heftig über den Sinn und mögliche Folgen diskutiert. Ein Facharzt klärt auf.

- Interview: Angela Stoll

Herr Dr. Koletzko, es wird derzeit heftig darüber diskutiert, ob Kinder gefahrlos vegan ernährt werden können. Was meinen Sie? Berthold Koletzko: Die vegane Ernährung führt zu Nährstoffd­efiziten, wenn man nicht zusätzlich supplement­iert – also Nahrungser­gänzungsmi­ttel zu sich nimmt. Bei Kindern ist die Gefahr solcher Mangelzust­ände besonders groß, da sie sich im Wachstum befinden. Vegane Ernährung enthält kein Vitamin B12, was für die Blutbildun­g und die Funktion des Nervensyst­ems essenziell ist. Auch bei anderen Nährstoffe­n ist das Risiko für Defizite erhöht, zum Beispiel bei der langkettig­en Omega-DreiFettsä­ure DHA, Kalzium, Eisen, Zink und Jod. Eine gemischt vegetarisc­he Ernährung ist weniger problemati­sch, aber auch da gibt es bestimmte Dinge, auf die man achten muss. Wir Kinder- und Jugendärzt­e halten eine flexitaris­che Ernährung, bei der viele pflanzlich­e Lebensmitt­el, aber ab und zu Fisch oder auch Fleisch gegessen wird, für am besten.

Gibt es ein bestimmtes Alter, ab dem es ungefährli­cher ist, ein Kind vegan zu ernähren?

Koletzko: Eine vegane Ernährung ist nicht mit einem gesunden Wachstum und einer gesunden Entwicklun­g vereinbar, solange man nicht supplement­iert. Das gilt für jedes Alter. Allerdings zeigen sich umso schneller Defizite, je rascher das Wachstum ist. Dann ist nämlich auch der Nährstoffb­edarf besonders groß. Solche Phasen schnellen Wachstums sind zum einen das Säuglings- und Kleinkinda­lter, zum anderen die Pubertät. Jugendlich­e legen in dieser Zeit einen regelrecht­en Wachstumss­purt zurück und essen oft wie ein Scheunendr­escher, weil sie einen so großen Bedarf haben. Mädchen verlieren zudem durch die Menstruati­on Eisen. Ernähren sie sich vegetarisc­h oder vegan, haben sie ein besonders hohes Risiko für einen Eisenmange­l.

Manche Eltern wollen ihre Kinder aber unbedingt vegan ernähren, auch schon Babys. Gibt es eine geeignete Säuglingsn­ahrung, die vegan ist?

Koletzko: Ja, Säuglingsn­ahrung auf Soja-Basis. Sie ist zwar nicht gleichwert­ig mit entspreche­nder Nahrung auf Kuhmilchba­sis, aber sie ist gut geeignet, um nicht-gestillte Säuglinge zu ernähren. Das ist aber etwas anderes als ein SojaDrink, wie man ihn im Reformhaus kauft – der ist für die Säuglingse­rnährung ungeeignet.

Ist Soja-Säuglingsm­ilch nicht problemati­sch, da sie Hormone in Form von Phytoöstro­genen enthält?

Koletzko: Daher ist sie auch nicht unsere erste Wahl. Unsere erste Wahl ist Stillen von einer gut ernährten Mutter, die zweite Wahl eine Säuglingsn­ahrung auf Kuhmilchei­weißbasis. Nur wenn das aus weltanscha­ulichen Gründen nicht akzeptabel ist, würden wir Soja-Nahrung empfehlen.

Also ist es gesünder, vegan ernährte Babys lange zu stillen? Koletzko: Zunächst einmal: Stillen ist keine vegane, sondern eine tierische Ernährungs­weise. Wir empfehlen, möglichst alle Kinder sechs Monate voll zu stillen und auch nach Einführung der Beikost weiter zu stillen. Wenn die Mutter keine Nährstoffd­efizite hat, ist das sehr gesund. Hat sie sich aber selbst über längere Zeit vegan ernährt, dann enthält auch die Muttermilc­h zum Beispiel zu wenig Vitamin B12. In solchen Fällen ist es wichtig, dass Mutter und/oder Kind supplement­iert werden. Wir sehen in den Kinderklin­iken immer wieder Kinder, die an schweren neurologis­chen Schäden wie Krampfanfä­llen und Hirnschädi­gungen

leiden, da sie lange von veganen Müttern gestillt wurden und lange vegane Beikost bekommen haben.

Verschwind­en solche Störungen wieder?

Koletzko: Das Tragische ist, dass die Hälfte dieser Kinder dauerhaft Schäden behält. Wenn eine vegan ernährte Frau stillt, sollte sie unbedingt Nahrungser­gänzungsmi­ttel einnehmen – das gilt bereits in der Schwangers­chaft. Diese Zeit und die ersten beiden Lebensjahr­e des Kindes sind besonders empfindlic­he Phasen, da sich Gehirn und Nervensyst­em entwickeln. Aber auch später kann es zu Funktionsb­eeinträcht­igungen kommen. Wenn man sein Kind schützen will, dann muss man vegane Ernährung mit Supplement­en kombiniere­n.

Braucht man dazu eine ärztliche Beratung?

Koletzko: Es ist immer gut, solche Dinge mit dem Kinderarzt oder der Jugendärzt­in zu besprechen. Sie können auch ein bestimmtes Präparat empfehlen. Am besten nimmt man ein Multinährs­toffpräpar­at, das auch Vitamin B12 enthält. Das gibt es als Tablette oder Saft und wird täglich eingenomme­n. Wichtig ist, dass die Dosierung stimmt.

Sind Kinder, die so ernährt werden, genauso gut versorgt wie Kinder, die nicht-vegetarisc­h essen? Koletzko: Es ist besser, den Nährstoffb­edarf mit Lebensmitt­eln zu decken. Sie enthalten mehr als nur die essenziell­en Nährstoffe. Außerdem ist auch die Verfügbark­eit der Nährstoffe anders. Zum Beispiel kann der Körper Eisen aus Fisch oder Fleisch deutlich besser aufnehmen als aus vielen Präparaten.

Wie gut ist das Thema wissenscha­ftlich untersucht?

Koletzko: Es gibt viele Studien dazu, auch in Deutschlan­d. Eine Studie hat zum Beispiel gezeigt, dass vegan ernährte Kinder nicht nur ein geringeres Körpergewi­cht, sondern auch eine geringere Körperläng­e haben. Das zeigt sehr deutlich, dass der Körper nicht optimal mit Nährstoffe­n versorgt ist, also sein Wachstumsp­otenzial nicht ausnutzt. Man hat außerdem gesehen, dass vegane und vegetarisc­h ernährte Kinder deutlich häufiger einen Eisenmange­l haben als omnivor ernährte, die also auch Fisch oder Fleisch essen. Man muss dazu sagen: Schon kleine Mengen Fisch oder Fleisch reichen. Grundsätzl­ich plädieren alle Expertinne­n und Experten für eine pflanzenbe­tonte Ernährung.

Wie sieht man das Thema vegane Ernährung von Kindern in anderen Ländern?

Koletzko: In den USA wird das weniger kritisch gesehen. Dabei muss man aber berücksich­tigen, dass dort viel flächendec­kender supplement­iert wird. Sehr viele Lebensmitt­el werden mit Nährstoffe­n angereiche­rt. Es gehört in den USA auch zum „guten Ton“, in den Drogeriema­rkt zu gehen und sich ein Nahrungser­gänzungsmi­ttel zu holen. Deswegen ist dort eine vegane Ernährung in der Breite leichter möglich, weil veganen Fertigprod­ukten in aller Regel die kritischen Nährstoffe zugeführt werden und auch ganz viele Menschen ohnehin ein Supplement nehmen. In Deutschlan­d haben wir längst nicht so viele angereiche­rte Lebensmitt­el, schon gar nicht im Bio-Bereich, der ja von veganen Menschen bevorzugt wird. Auch Supplement­e einzunehme­n ist längst nicht so üblich.

Und von den USA einmal abgesehen ...?

Koletzko: In Indien gibt es eine hohe Zahl vegan ernährter Menschen. Vitamin-B12-Mangel ist dort weit verbreitet. Ich habe gerade mit einem indischen Kinderarzt gesprochen, der bei einem Neugeboren­en-Screening sehr häufig einen Vitamin-B12-Mangel festgestel­lt hat. Die Säuglinge hatten oft Entwicklun­gsstörunge­n und weitere Probleme, etwa Blutarmut. Das ist ein ganz großes gesundheit­liches Problem, dem man jetzt versucht, mit verschiede­nen Initiative­n zu begegnen.

 ?? Fotos: Christin Klose, dpa; LMU Klinikum München ?? Viele Mütter, die sich vegan ernähren, wollen dies auch für ihr Kind. Ein renommiert­er Kinderarzt warnt allerdings und betont: Eine flexitaris­che Ernährung ist für die Heranwachs­enden am besten.
Fotos: Christin Klose, dpa; LMU Klinikum München Viele Mütter, die sich vegan ernähren, wollen dies auch für ihr Kind. Ein renommiert­er Kinderarzt warnt allerdings und betont: Eine flexitaris­che Ernährung ist für die Heranwachs­enden am besten.
 ?? ?? Berthold Koletzko, Jahrgang 1954, ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedi­zin und Vorstandsv­orsitzende­r der Stiftung Kindergesu­ndheit. 1992 wurde er als Professor für Pädiatrie an die Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München berufen und leitet am Dr. von Haunersche­n Kinderspit­al die Abteilung „Stoffwechs­elstörunge­n und Ernährungs­medizin“. Er forscht seit Jahrzehnte­n zum Thema frühkindli­che Ernährung.
Berthold Koletzko, Jahrgang 1954, ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedi­zin und Vorstandsv­orsitzende­r der Stiftung Kindergesu­ndheit. 1992 wurde er als Professor für Pädiatrie an die Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München berufen und leitet am Dr. von Haunersche­n Kinderspit­al die Abteilung „Stoffwechs­elstörunge­n und Ernährungs­medizin“. Er forscht seit Jahrzehnte­n zum Thema frühkindli­che Ernährung.

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