Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (2)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Eine Frau, eigentlich zu alt für eine Schwangerschaft, saß auf der Bettkante, hielt sich den Bauch und schaukelte vor und zurück. Jemand weinte, andere unterhielten sich. Dann spürte sie ein warmes, warnendes Prickeln im Nacken. Eine Frau fixierte sie vom Fenster her, als wollte sie sagen: Hör auf, die anderen anzustarren. Florentine spürte, wie etwas in ihr wegsackte. Die Luft war stickig. Das Stimmengewirr wurde leiser, verklang fast und setzte sich doch immer weiter fort. Ihr kam der Gedanke, dass sie vorsätzlich alle in einem Zimmer untergebracht worden waren. Es entband die Ärzte davon, sie als einzelne Menschen zu sehen, und es war leichter, vom Fußende des Bettes zu urteilen und zu richten.
Sie ging den hell erleuchteten Gang entlang. Niemand war zu sehen. Schließlich fand sie etwas, das sie für eine Toilette hielt. Sie trat ein, lehnte sich an die Tür und schloss die Augen. Dann nahm sie den Gestank wahr. Es gab keine Toilettenschüsseln, nur zwei Löcher im Boden. Der fest gefügte Raum löste sich auf, als sie bemerkte, was auf dem Fußboden lag, wie unachtsam mit einem Eimer ausgeschüttet und mit dem Besen in die Aborte gekehrt. Sie sah die kleinen Arme, die winzigen Hände, noch ganz nah am Körper, die gekrümmten Wirbelsäulen, die reptilienartigen Köpfe mit den zarten geschlossenen Augenlidern, die rosa Haut, die blauen Flecken, das Blut. Florentine konnte sich gerade noch seitlich über eines der
Waschbecken beugen und übergab sich.
Eine ungewollte Schwangerschaft beendete man, indem man vom Tisch sprang, schwer trug oder jemanden bat, einem in den Bauch zu schlagen. Die Engelmacherinnen im Dorf rieten zu Salbei, Arnika, Rosmarin, Petersilie, Beifuß oder Angelica in hoher Dosis. Wenn alles nichts half, dann verabreichte man sich gering konzentrierte Blausäure oder versuchte es mit Stricknadeln. Frauen, die solche Maßnahmen ergriffen, nahmen das Risiko in Kauf, unfruchtbar zu werden. Oder es konnte ihnen ergehen wie Nika.
Sie hatten einander im Rathaus kennengelernt, wo sie, in eine Schlange eingereiht, darauf warteten, zu jemandem vorgelassen zu werden. Nika mutmaßte, dass das Schlangestehen von der Regierung als Leibesübung gedacht war und sie somit von weiteren sportlichen Aktivitäten entband. Die dadurch gewonnene Zeit sollte ihrer Meinung nach beim Kaffee verbracht werden. Oder bei einem Glas Vis¸inataˇ ? – noch besser, beidem.
Nika war die erste Freundin, die Florentine im Dorf hatte. Mehrmals in der Woche trafen sie sich zu Kaffee und Sauerkirschlikör. Meist in Nikas Küche, wo das Radio plärrte, eines der drei Kinder spielte und immer ein Kuchen im Rohr oder eine Suppe auf dem Herd stand. Hannes erkannte am Geruch, wo Florentine gewesen war. Eine Mischung aus Küchenaromen, Kaffee und Zigarettenrauch.
Nika, eine Zigarette zwischen den Fingern, der dünne aufsteigende Rauchfaden durcheinandergewirbelt durch die Bewegungen ihrer Hände, die das, was sie sagte, unterstrichen, kommentierten, infrage stellten – war das erste Bild, das auftauchte, wenn Florentine an ihre Freundin dachte. Dann die hellgrünen Augen (ein Ausdruck zwischen Erwartung und Übermut), die Schnelligkeit ihres Verstandes, ihre Ironie und Lust zu lachen, was gleichzeitig ihre Melancholie offenbarte. Ein Erbe der Familie,
wie sie sagte. Nika war in der Bukowina geboren worden, in einem Dorf, wo sich ihre erste Liebe mit achtzehn Jahren das Leben genommen hatte. Nur nicht Dichter werden, riet sie ihren Söhnen. Die sterben jung, und sagen, was sie denken, dürfen sie nicht; ob auf dieser oder der anderen Seite der Wälder.
Florentine und Nika wurden beide im Sommer schwanger. Doch Nika wollte kein weiteres Kind. Sie spritzte sich ein Mittel, das man Kühen verabreichte, und starb innerhalb von drei Tagen unter Krämpfen. Im Krankenhaus weigerte man sich, sie zu behandeln. In der Volksrepublik Rumänien gab es keine Abtreibungen.
Der Arzt mit dem kalten Ohr entließ Florentine zum Ende der Woche. Die Zwischenblutungen hatten aufgehört, und weiter konnte man nichts für sie tun. Sie meinte, an seinem Verhalten zu erkennen, dass er ihr noch immer unterstellte, etwas gegen ihre Schwangerschaft unternommen zu haben, sagte aber nichts. Sie war froh, dass sie nach Hause durfte. Aus dem überfüllten Zimmer fortkommen, im eigenen Bett schlafen, ein Bad nehmen, bei Hannes sein – der versucht hatte, sie zu besuchen, jedoch nicht vorgelassen worden war, was Mariana mitbekommen hatte, die alles mitbekam. Florentine war oft zum Bett der Zigeunerin gegangen, sie hatten das Fenster einen Spalt geöffnet und dem Schneetreiben auf der Straße zugesehen.
Mariana trug einen weiten, bodenlangen Hausmantel und ließ die Beine baumeln wie jemand, der auf einer Mauer saß. Sie erwartete ihr viertes Kind und war seit Wochen im Krankenhaus. Das Bett am Fenster wurde schließlich keinen Neulingen zugeteilt. Sie wusste, wie man eine größere Portion Essen erhielt, was man tun musste, damit die Hausschuhe nach dem Putzen nicht verschwanden, und sie zeigte ihr ein Stockwerk tiefer Toiletten, die die Schwestern benutzten. 3. Fortsetzung folgt