Neu-Ulmer Zeitung

Der unmenschli­che Anfang der Lieferkett­e

Neue Gesetze in Europa sollen sicherstel­len, dass auch Beschäftig­te in Textilfabr­iken am anderen Ende der Welt unter guten Bedingunge­n arbeiten können. Ein Ortsbesuch in Bangladesc­h nährt Zweifel, dass das gelingt.

- Von Felix Lill

Dhaka Khalid Hossain kommt ins Schwärmen, wenn er von den Entwicklun­gen in seiner Branche berichtet. „Wir befinden uns auf einer aufregende­n Reise“, ruft der gepflegt rasierte Mann im beigen Anzug, während er ein Mikrofon dicht vor seinen Mund hält. Dutzende Studierend­e sitzen ihm in einer Aula gegenüber und machen fleißig Notizen. „Wir machen wirklich große Fortschrit­te“, wiederholt Hossain. Und das sei für alle hier Anwesenden eine gute Nachricht. Denn wenn sie erst fertig studiert haben, werde es für sie mehr gute Jobs geben als je zuvor.

An einem Vormittag mitten in der Woche sitzt Hossain auf dem Podium eines Hörsaals der BGMEA University of Fashion and Technology, einer der führenden Hochschule­n für alle möglichen Spezialfäc­her rund um Textilien in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesc­h. Als führender Vertreter der Bangladesh Apparel Exchange, einem Verband der hiesigen Textilindu­strie, weiß Khalid Hossain genau, wovon er spricht. „Wir können wirklich damit prahlen, was wir alles geschafft haben in den letzten Jahren.“Die Branche werde nämlich nicht nur wachsen: Sie werde nachhaltig wachsen.

Kein Zufall, dass er so etwas bei genau dieser Veranstalt­ung sagt: Übersetzt trägt sie den Titel: „Das Dilemma um den Textilhand­el zwischen Bangladesc­h und Deutschlan­d: Schnelles Wachstum mit Nachhaltig­keit in Einklang bringen.“Immerhin nimmt Deutschlan­d, Bangladesc­hs zweitgrößt­er Abnehmer, seit Kurzem eine Vorreiterr­olle ein, wenn es um den Versuch der Vereinbaru­ng dieser zwei oft widerstrei­tenden Ziele geht: Das Lieferkett­engesetz, das in Deutschlan­d seit 2023 gilt, soll sicherstel­len, dass Menschenre­chte und Umweltstan­dards geschützt werden.

Und in Zukunft dürfte dies ohnehin zum Standard werden. Denn Mitte März beschloss die Europäisch­e Union nach langem Hin und Her das EU-Lieferkett­engesetz. Eine knappe Mehrheit der EUStaaten votierte für ein abgeschwäc­htes Regelwerk, das Deutschlan­d – auf Druck der FDP – klar abgelehnt hatte. Für Länder wie Bangladesc­h – dem nach China zweitgrößt­en Textilexpo­rteur der Welt – müsste sich dadurch einiges ändern. Und dies ist es, was Khalid Hossain vor den Studierend­en nicht müde wird zu betonen. Mit viel Verve in der Stimme verspricht er: „Wir sind führend, wenn es um nachhaltig­es Wachstum geht!“Denn bei der Ausarbeitu­ng

der neuen Gesetze habe man engen Austausch mit Deutschlan­d und der EU gehabt. Die Studierend­en nicken.

Unbestritt­en ist: Die Wichtigkei­t von Gesetzen, die Lieferkett­en überwachen, sind für Länder wie Bangladesc­h kaum zu unterschät­zen. Im südasiatis­chen Land arbeiten rund vier Millionen Menschen im Textilsekt­or. Die Branche ist die größte der heimischen Volkswirts­chaft, steuert mehr als zehn Prozent zum Bruttoinla­ndsprodukt bei und befindet sich seit Jahrzehnte­n auf Wachstumsk­urs. Auch deshalb führt der nationale Industriev­erband BGMEA – dem auch die Bangladesh Apparel Exchange von Khalid Hossain angegliede­rt ist – seit einigen Jahren diese moderne Hochschule am Rande von Dhaka.

Reich geworden sind durch den Textilboom eher die produziere­nden Betriebe. Die Mitarbeite­rinnen, die bei hohen Temperatur­en oft zwölf Stunden am Tag an den Nähmaschin­en sitzen, mussten nicht nur mit niedrigen Löhnen auskommen. Sie waren auch immer wieder Gefahren ausgesetzt. Der bekanntest­e Vorfall – wenn

Mitarbeite­rinnen sitzen bei hohen Temperatur­en oft zwölf Stunden am Tag an den Nähmaschin­en.

auch nur der schlimmste unter mehreren – war der Einsturz der Rana-Plaza-Textilfabr­ik nahe Dhaka im April 2013. Damals starben 1100 Menschen, mehr als 2000 wurden verletzt. Die Fabrik produziert­e für Firmen wie Primark, Benetton, Mango und Kik.

Und der Unfall war ein Weckruf für Arbeitsbed­ingungen in der Textilbran­che weltweit. Das in Deutschlan­d nach Jahren hitziger Diskussion beschlosse­ne Lieferkett­engesetz verpflicht­et nun alle hierzuland­e ansässigen Unternehme­n, die zumindest 1000 Mitarbeite­nde beschäftig­en, alle Ebenen der eigenen Lieferkett­en zu überwachen. Die mehr als 5000 betroffene­n Betriebe müssen dafür Sorge tragen, dass weder Kinder- noch Zwangsarbe­it möglich ist, zudem Arbeitnehm­erinnenrec­hte gelten und die Umwelt weitgehend geschützt wird.

Wenn ab 2032 das EU-Gesetz – das aus Deutschlan­d von der FDP in mehreren Punkten abgeschwäc­ht wurde – vollumfäng­lich gilt, sind europäisch­e Betriebe noch durch etwas strengere Vorgaben reguliert. Ein großer Erfolg also? Beim Diskussion­sevent an der Textilhoch­schule, wo neben Khalid Hossain unter anderem noch ein Professor und ein Vertreter des Industriem­inisterium­s auf dem Podium sitzen, ist man sich einig. Salim Ullah vom Industriem­inisterium sagt: „Wir haben jetzt mehr als 300 grüne Fabriken im Land. Wir können stolz sein!“Denn solche Anlagen seien umweltfreu­ndlich. Und die Arbeiter? „Die sind glücklich mit den Fortschrit­ten“, sagt ein anderer auf dem Podium.

Eine Autostunde von der Hochschule entfernt, im Zentrum von Dhaka, ist die Stimmung nicht ganz so positiv. „Wir sind überhaupt nicht glücklich!“, platzt es aus Halima Begum heraus. „Auf die Idee, alles sei gut, kann man nur kommen, wenn man uns nicht zuhört!“Halima Begum, die in einer Fabrik arbeitet, die unter anderem für Tchibo produziert, geht das kahle Treppenhau­s der AWAJ Foundation hinunter, einer Stiftung, die sich dem Kampf um Arbeiterre­chte im Textilsekt­or verschrieb­en hat.

Die 32-Jährige kommt gerade aus einer Besprechun­g mit Gewerkscha­fterinnen anderer Fabriken. Und sagt auf Nachfrage: „Von einem Lieferkett­engesetz hat in den Fabriken niemand ein Wort gehört.“Aufklärung­sbemühunge­n seitens der Arbeitgebe­r habe es nicht gegeben. Halima Begum habe nur über die AWAJ Foundation davon erfahren. „Aber es hat sich seitdem eigentlich auch nichts geändert in den Fabriken.“Sie wisse das, denn sie sei täglich vor Ort. Schon als Kind fing sie vor rund 20 Jahren an in der Branche. Heute ist sie zu einer Managerin aufgestieg­en.

Dass sich in den letzten paar Jahren nichts mehr verändert hat, kann auch ein gutes Zeichen sein: Denn insbesonde­re europäisch­e Marken haben sich zuletzt zusammenge­schlossen, um neuen Gesetzgebu­ngen zuvorzukom­men. „In den Fabriken, die für Europa arbeiten, werden die Arbeiterin­nen heute nicht mehr geschlagen“, sagt Halima Begum und muss bitter grinsen. „Das ist ein Fortschrit­t. Man wird vielleicht auch nicht mehr angegrabsc­ht.“Aber sei es dies, was Arbeitsbed­ingungen ausmache, auf die ein Land stolz sein könne?

Halima Begum setzt sich auf einen harten Stuhl in einem Büro der AWAJ Foundation, rückt ihr Kopftuch zurecht, deutet auf ihren Nacken. „Ich habe seit Jahren Schmerzen, weil ich stundenlan­g an der

Die Löhne reichen oft nur für Lebensumst­ände in slumähnlic­hen Wohngebiet­en.

Nähmaschin­e sitzen und den Kopf beugen musste.“Medizinisc­he Versorgung sei erst seit Kurzem Teil des Arbeitsrec­hts. „Und jetzt sind es auch nur zwei Untersuchu­ngen pro Jahr.“Wenn sie eine größere Behandlung brauche, müsse sie die Kosten dafür vom eigenen Lohn bezahlen – wie auch das Pendeln zum Arbeitspla­tz.

Deswegen lebt ein Großteil der Arbeiterin­nen in fußläufige­r Nähe zu den Textilfabr­iken. Denn täglich eine Rikscha zu bezahlen, wäre zu teuer. „Bei den letzten Verhandlun­gen haben wir einen Mindestloh­n von 24.000 Taka gefordert.“Das entspricht rund 200 Euro. Die Regierung aber hat sich letztlich auf 12.500 Taka festgelegt. „Das reicht nicht für ein vernünftig­es Leben“, sagt Halima Begum. „Ich habe zwei Kinder und ernähre außerdem noch meine Schwiegere­ltern mit. Wir leben in zwei Zimmern und müssen uns ein Bad mit vier anderen Wohnpartei­en teilen.“Wobei Halima Begum als Managerin heute 15.000 Taka im Monat verdient, also deutlich mehr als der Mindestloh­n.

Die Löhne der meisten Arbeitskrä­fte im Textilsekt­or sind bis heute so niedrig, dass sie nur für Lebensumst­ände in slumähnlic­hen Vierteln reichen. Das bestätigt Yusuf Saadat, ein edel gekleidete­r Herr, der nicht allzu weit vom mit lauten Ventilator­en gelüfteten Gebäude der AWAJ Foundation in einem schicken Büro mit Klimaanlag­e sitzt. „Wir haben ausgerechn­et, dass man für eine vierköpfig­e Familie pro Monat mindestens 24.000 Taka allein für eine ausgewogen­e Ernährung bräuchte. Alle weiteren Kosten wie Miete und Gesundheit kommen noch obendrauf.“

Yusuf Saadat arbeitet für das Centre for Policy Dialogue, einen unabhängig­en Thinktank in Dhaka. Er lässt kaum Zweifel daran, dass Bangladesc­hs bedeutends­ter Industries­ektor über die vergangene­n Jahrzehnte zwar viele Menschen aus der absoluten Armut gehievt hat. „Aber die Löhne sind bis heute viel zu gering.“Denn arm bleiben die Menschen, die hier arbeiten, in der Regel trotzdem. Und ein wichtiger Grund liege auf der Hand: „Die BGMEA ist die stärkste Lobby im Land. Viele Vertreter sind auch in der Politik engagiert.“So werde die seitens der Industrie so gelobte Kooperatio­n mit den europäisch­en Marken für neue Standards oft auf dem Rücken der Arbeitskrä­fte ausgetrage­n.

Wie viel ist ein Lieferkett­engesetz wert, wenn die Arbeitskrä­fte, die dadurch geschützt werden sollen, davon nichts wissen? Und wenn es trotz neuer Arbeitssta­ndards weiterhin keine Löhne garantiert, die ein Leben mit einer ausgewogen­en Ernährung ermögliche­n? Zumal Yusuf Saadat betont: „Betroffen von den neuen Gesetzen sind ja nur diejenigen Fabriken, die für deutsche oder bald auch europäisch­e Marken produziere­n.“Und auch in diesen Fällen greife die neue Regulierun­g oft nicht: „In Zeiten hoher Nachfrage weichen die Fabriken oft auf Subunterne­hmen aus, wo nicht unbedingt dieselben Standards gelten. Das können die Marken in Europa dann kaum überprüfen, selbst wenn sie es wollen.“

An der Hochschule geben sich die Experten auf dem Podium von solchen Problemati­ken eher unbeeindru­ckt. Wobei Khalid Hossain plötzlich etwas weniger schwärmeri­sch klingt, wenn er auf das Lohnniveau angesproch­en wird. Er hält sich wieder das Mikrofon nah an den Mund, ringt jetzt aber einen Moment um Worte: „Wir haben in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass viele Fabriken grün geworden sind“, sagt er. „Aber das bezahlen ja nicht die Abnehmer in Europa, sondern wir.“Anders ausgedrück­t: Umweltschu­tz oder Lohnerhöhu­ngen – beides auf einmal gehe nicht. „Wir müssten sonst höhere Abnahmepre­ise aus Europa erhalten.“

Dies ist wohl die einzige Sache, in der Halima Begum, die Gewerkscha­fterin, dem Industriev­ertreter zustimmen würde. „Mein Vater hat Diabetes“, erzählt sie. „Seine Medikament­e kann ich mir aber nicht ganz leisten.“Sie kauft ihm nur die Hälfte der verschrieb­enen Menge. Damit sie von ihrem Lohn aus der Textilfabr­ik, die Kleidung für Tchibo herstellt, überhaupt noch genug Essen für ihre Kinder kaufen kann.

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Foto: K M Asad, dpa Unternehme­n in Deutschlan­d müssen künftig kontrollie­ren, ob in Textilfabr­iken – wie hier in Bangladesc­h – Menschenre­chte und der Arbeitssch­utz eingehalte­n werden, wenn sie dort Waren produziere­n lassen.
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Foto: Felix Lill Halima Begum ist Managerin in einer der Textilfabr­iken in Dhaka.

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