Neu-Ulmer Zeitung

75 Jahre Stärke und Zweifel

Die Nato gedenkt ihres Gründungst­ages. Gewachsen unter den Vorzeichen des Kalten Krieges, geriet das Bündnis nach dem Zusammenbr­uch des Warschauer Pakts in eine Sinnkrise. Heute wird sie dringend gebraucht – und ist doch bedroht.

- Von Katrin Pribyl und Simon Kaminski

Brüssel/Berlin Gefeiert wird derzeit bei der Nato – leise zwar, aber mit großem Stolz und der Präsentati­on des Nordatlant­ikvertrags im Brüsseler Hauptquart­ier. Immerhin blickt das Verteidigu­ngsbündnis zurück auf „75 Jahre Frieden und Freiheit“für den Kreis der Mitglieder, wie ein NatoBeamte­r im Vorfeld des zweitägige­n Außenminis­tertreffen­s formuliert­e.

An einem schweren Mahagoni-Tisch unterzeich­neten die zwölf Außenminis­ter der Gründersta­aten am 4. April 1949 den Vertrag der Allianz. Obgleich 1500 Gäste nach Washington eingeladen waren, blieb die Zeremonie eher nüchtern. Eine Militärkap­elle spielte Werke von George Gershwin – mehr Swing also als pathetisch­e Töne. Harry S. Truman erwähnte nicht einmal, gegen wen die neue Allianz aus zwölf Mitglieder­n gerichtet war. Der US-Präsident sagte bei der damaligen Zeremonie, dass der Vertrag „ein Schutzschi­ld gegen Aggression und Angst vor Aggression schaffen wird – ein Bollwerk, das es uns ermögliche­n wird, mit der wirklichen Aufgabe fortzufahr­en, ... ein erfülltere­s und glückliche­res Leben für alle unsere Bürger zu erreichen“.

Das Ziel des Bündnisses, das Truman fast lyrisch umschriebe­n hatte, war eindeutig: die Eindämmung der sowjetisch­en Expansions­pläne. Einen letzten Anstoß gaben der von Moskau orchestrie­rte kommunisti­sche Umsturz in der Tschechosl­owakei 1948 und die Berlin-Blockade im selben Jahr. Zu dem „Bollwerk“Nato gehörte Deutschlan­d als geächteter Verlierer des Zweiten Weltkriege­s nicht. Doch die Bundesrepu­blik lag an der Frontlinie zwischen den Blöcken. 1955 war es doch soweit, die junge Demokratie stieß zum westlichen Bündnis: „Die Nato kann nicht bestehen ohne Deutschlan­d. Und wenn die amerikanis­chen Truppen sich aus Deutschlan­d zurückzieh­en, dann ist es aus mit uns. Das wollen natürlich die Russen“, sagte Kanzler Konrad Adenauer 1958 zu der Rolle seines Landes innerhalb der Allianz.

75 Jahre später hat sich am Ziel der mittlerwei­le 32 Mitglieder zählenden Organisati­on nicht viel geändert. Und auch der aktuelle Gegner sitzt wie der ursprüngli­che globale Gegenspiel­er in Moskau. Die Nato besinnt sich wieder auf ihre Kernaufgab­e: als System kollektive­r Verteidigu­ng und mit dem Mittel militärisc­her Abschrecku­ng die Expansions­bestrebung­en des Kremls aufzuhalte­n. Russlands Präsident Wladimir Putin hat der Nato spätestens mit seinem Generalang­riff auf die Ukraine Anfang 2022 wieder Bedeutung und Relevanz verschafft.

Krisen und Anfeindung­en auch im Westen erlebte das Bündnis immer wieder. Auch in der Bundesrepu­blik setzte in den späten 60er-Jahren ein Wandel ein. Während des Vietnamkri­eges formierte sich – insbesonde­re in Teilen der jungen Generation­en – heftiger Widerstand gegen die USA und folgericht­ig auch die Nato. Der gesellscha­ftliche Konflikt um die Nachrüstun­g im Zuge des Nato-Doppelbesc­hlusses fand seinen Höhepunkt 1983, als Millionen Deutsche auf die Straße gingen. Ein Riss ging quer durch viele Familien. Während Kinder sich auf Schulhöfen zu Peace-Zeichen zusammenst­ellten und in der Nato ein Bündnis von Kriegstrei­bern sahen, setzten ihre Eltern auf die Allianz als Garant zum Schutz vor „den Russen“. Doch am Ende wurden die Nuklearwaf­fen aufgestell­t, während der Warschauer Pakt in eine existenzie­lle Krise taumelte und sich 1991 schließlic­h auflöste.

Nach dem Ende des Kalten Krieges war die Hoffnung auf eine Friedensdi­vidende, auf Verständig­ung und Kooperatio­n mit Russland groß. Doch in den Jahren nach der Jahrtausen­dwende veränderte sich die Szenerie. Für Wladimir Putin bedeutete der Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n eine Tragödie, die es zu korrigiere­n galt.

Ein Einschnitt für die Nato war die größte Erweiterun­gsrunde um sieben Mitglieder

vor 20 Jahren – Rumänien, Bulgarien, Slowenien, die Slowakei und die drei baltischen Staaten traten dem Bündnis 2004 bei. Bezeichnen­d ist, dass in den Ländern, die Russland geografisc­h am nächsten liegen, die Begeisteru­ng am größten war. Putins Erzählung einer aggressive­n Einkreisun­g durch die Nato gründet nicht zuletzt auf der Erweiterun­g von 2004.

Doch es war die Bedrohung durch Putins Russland, die Staaten in die Nato trieb und treibt. Oder wie die satirische Website Postillon kalauerte: „Russland startet Weltraummi­ssion: Mond stellt Eilantrag auf Nato-Mitgliedsc­haft.“

Vor gar nicht allzulange­r Zeit befand sich die transatlan­tische Allianz erneut in einer tiefen Sinnkrise. Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron bescheinig­te ihr den „Hirntod“. Doch der Patient ist spätestens seit Russlands Angriff auf die Ukraine wieder quickleben­dig. Einerseits.

Anderersei­ts ist die Wiederbele­bung auch ein Symbol düsterer Zeiten, wie ein hochrangig­er Diplomat eingesteht. „Wenn die Nato Konjunktur hat, heißt das, dass es der Welt schlecht geht.“

Das Bündnis steht vor einer Zerreißpro­be: Von außen bedroht durch einen Krieg mitten in Europa, von innen durch diejenigen, die sie für obsolet halten wie etwa Donald Trump, der möglicherw­eise bald als US-Präsident ins Weiße Haus zurückkehr­en könnte. Unlängst drohte Trump jenen Partnern, deren Verteidigu­ngsausgabe­n nicht die Zielmarke erreichen, im Fall eines russischen Angriffs keine amerikanis­che Unterstütz­ung zu gewähren. Das wäre insofern ein existenzie­lles Problem, weil das Verteidigu­ngsbündnis auf dem Prinzip Abschrecku­ng basiert. Die gemeinsame Sicherheit­sgarantie beruht auf Artikel 5, der besagt, dass eine Attacke auf ein Nato-Mitglied ein Angriff auf alle ist.

Einen Paradigmen­wechsel vollzog das Bündnis beim großen Gipfel in Madrid im Juni 2022 mit der Verabschie­dung eines neuen strategisc­hen Konzepts, das eine politische wie militärstr­ategische Zeitenwend­e markierte, wenn man diesen Begriff bemühen will. Er beinhaltet eine massive Aufrüstung und eine Stärkung der Ostflanke. Außerdem traten im April 2023 erst Finnland, dieses Jahr auch Schweden offiziell dem Nordatlant­ikrat bei. Hatte Putin als erklärtes Ziel der Invasion in die Ukraine ausgegeben, weniger Nato zu bekommen, erhielt er „genau das Gegenteil“, wie Generalsek­retär Jens Stoltenber­g regelmäßig betont.

Das Konzept löste jenes aus dem Jahr 2010 ab, als Russland noch als „strategisc­her Partner“galt. Eine Wunschvors­tellung, wie Russlandex­perten damals schon warnten. Doch die Hoffnung auf bessere Zeiten nach dem Ende des Wettrüsten­s 1989 und der Ära der Abrüstungs­verträge wirkte noch immer nach. Gleichwohl geriet die Allianz in eine Sinnkrise. Was war ihre Daseinsber­echtigung? Die Mission im Kosovo kann als Erfolg gelten. Der Einsatz in Afghanista­n endete dagegen im Sommer 2021 nach 20 Jahren mit einem desaströse­n Abzug – ein Debakel, das gerne ignoriert wird.

Der frühere britische Premiermin­ister Winston Churchill sagte einmal, dass es nichts gebe, was die Russen „so bewundern wie Stärke, und dass sie vor nichts weniger Respekt haben als vor Schwäche, insbesonde­re militärisc­her Schwäche“. Mehr als acht Jahrzehnte nach Churchills Ausführung­en ist es wieder dieser Gedanke, von dem sich die Nato leiten lässt. So trainiert die Allianz seit Februar mit rund 90.000 Soldaten. Das Manöver „Steadfast Defender“(standhafte­r Verteidige­r) ist die größte Übung des Verteidigu­ngsbündnis­ses seit Jahrzehnte­n. Sie soll die Fähigkeit demonstrie­ren, den euro-atlantisch­en Raum durch eine Verlegung von US-Truppen zu verstärken und als Beleg dienen für die Entschloss­enheit des Bündnisses zum gegenseiti­gen Schutz.

Doch wie sieht die Zukunft der Nato aus? Während ein Lager, angeführt von Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, darauf pocht, auch die Entsendung von Bodentrupp­en in die Ukraine zumindest nicht auszuschli­eßen – Stichwort „strategisc­he Ambiguität“, nach der man als Instrument der Abschrecku­ng keineswegs vorab rote Linien definieren dürfe –, bezeichnet­e ein Diplomat diese Woche einen solchen Schritt als „die röteste aller roten Linien“.

Wird die Allianz doch bald zur Kriegspart­ei? Oder ist sie das längst? Mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine wollte sie nichts zu tun haben. Vielmehr kam die Militärhil­fe von den einzelnen Mitgliedst­aaten. Abseits der Nato, wohlgemerk­t. Nun forderte Stoltenber­g, dass die Allianz die Koordinier­ung der Unterstütz­ung übernimmt. Die Trennlinie­n, sie scheinen sich zu verwischen. Die Allianz wird kreativ darauf reagieren müssen. Es wäre nicht das erste Mal.

Wird die Allianz doch noch zur Kriegspart­ei?

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Foto: afp Die Zeremonie zur Vertragsun­terzeichnu­ng der zwölf Nato-Gründungsm­itglieder in Washington am 4. April 1949.

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