Neu-Ulmer Zeitung

Wenn zwei plus zwei nicht vier ist

Seit dem russischen Angriffskr­ieg und dem Machtwechs­el in Polen sind die Unterschie­de zwischen den Visegrad-Staaten offenkundi­g geworden. Die Zukunft der Gruppe ist fraglich.

- Von Dominik Kalus

Warschau Für den slowakisch­en Ministerpr­äsidenten Robert Fico war es eine „Ohrfeige“. So drückt es Ostmittele­uropa-Experte Milan Nic von der Deutschen Gesellscha­ft für Auswärtige Politik (DGAP) aus. Anfang März hat die tschechisc­he Regierung verkündet, vorerst keine Regierungs­treffen mit der Slowakei mehr abzuhalten. Es sei „unmöglich, fundamenta­le Meinungsdi­fferenzen in Kernthemen der Außenpolit­ik zu ignorieren“, schrieb Tschechien­s Ministerpr­äsident Petr Fiala auf X.

Grund für die schlechte Stimmung ist die unterschie­dliche Sichtweise der Nachbarlän­der auf den Krieg in der Ukraine: Tschechien unterstütz­t das angegriffe­ne Land mit Waffenlief­erungen und hat sich klar an die Seite Washington­s und Brüssels gegen Russland gestellt. Fico dagegen setzt sich für einen Waffenstil­lstand sowie Zugeständn­isse an Moskau ein und hat die militärisc­he Unterstütz­ung für die Ukraine eingestell­t.

Die Entscheidu­ng markiert einen Tiefpunkt in der Beziehung zwischen Tschechien und der Slowakei, die über 70 Jahre lang einen Staat gebildet hatten und bis heute eng verwoben sind. Doch gleichzeit­ig wirft sie ein Schlaglich­t auf die Dynamik im gesamten Osten der EU. Denn die Russlandfr­age ist zum Prüfstein für den VisegradBl­ock geworden, in dem sich zwei Fraktionen gegenübers­tehen: Auf der einen Seite Polen und Tschechien als unerschütt­erliche Unterstütz­er der Ukraine, auf der anderen Seite die Slowakei und Ungarn, deren Nähe zu Russland konstrukti­ve Gespräche im Visegrad-Format unmöglich gemacht hat.

Dabei hatte sich die VisegradGr­uppe formiert, um sich nach der Wende von Moskau weg in Richtung Europa zu bewegen. Als Format regionaler Kooperatio­n arbeitete man an der Integratio­n in den Westen. Nach der EU-Osterweite­rung war dieses Ziel erreicht, doch die vier Visegrad-Staaten blieben als informelle­s Bündnis bestehen. Neue Kraft entwickelt­e es im Zuge der Migrations­krise 2015. Visegrad stemmte sich gegen die EU-Migrations­politik.

Als in Polen die PiS-Partei an die Macht kam, war das der Beginn eines Zweckbündn­isses zwischen der polnischen Regierung und dem ungarische­n Ministerpr­äsidenten Viktor Orbán. Beide Länder wurden von der EU für ihre autokratis­chen Tendenzen und Eingriffe ins Justizsyst­em kritisiert – und gaben sich in Brüssel gegenseiti­g Rückendeck­ung, um EU-Sanktionen zu entgehen. Warschau und Budapest waren auf einer Linie, wenn es um Eingriffe in die Gewaltente­ilung

und Medienfrei­heit sowie um die Ablehnung sexueller Minderheit­en und Gender-Themen ging. Dadurch kam es allerdings im Visegrad-Block erstmals zu Rissen, nachdem in Tschechien und der Slowakei pro-europäisch­e Regierunge­n gewählt wurden. Aus den „V4“wurde erstmals ein „V2 plus V2“, Prag und Bratislava arbeiteten eng zusammen.

Mit den Wahlen in der Slowakei und Polen 2023 haben sich Dynamik und Partnersch­aften innerhalb des Blocks umgekehrt. Nach dem Machtverlu­st der PiS sieht Orbán in Fico einen neuen Verbündete­n. Und die von Donald Tusk geführte Regierung Polens versteht sich mit der transatlan­tisch eingestell­ten tschechisc­hen Führung, deren Präsident Petr Pavel ein ehemaliger Nato-General ist.

Allerdings hatten sich Warschau und Budapest schon nach Beginn des russischen Angriffskr­iegs entzweit. Auch für die PiS ist es nicht hinnehmbar, dass Orbán EU-Hilfen an die Ukraine blockiert und Putins Krieg eine „Spezialope­ration“genannt hat. Mit einem einzigen Querschläg­er hätten die drei anderen Visegrad-Länder wohl noch umgehen können, mit der Wahl Robert Ficos in der Slowakei bildete sich allerdings ein neuer Zweierbloc­k. Analog zu Orbán bezeichnet­e Fico den Krieg in der Ukraine als „nicht unser Krieg“ und stoppte staatliche Waffenlief­erungen an Kiew.

Dabei ist Fico durchaus am Visegrad-Format gelegen; zum Amtsantrit­t betonte er die besonderen Beziehunge­n zum Nachbarn Tschechien. Auf seine Initiative kam es im Februar sogar zum Versuch einer Wiederbele­bung des Visegrad-Formats. Bei dem Treffen wurden aber die Unterschie­de offenbar – nicht nur hinter den Kulissen. Fico und Orbán wurden von Demonstran­ten mit Pfiffen und „Geh nach Hause nach Russland“-Schildern begrüßt.

„Das ist ein Bruch, der wahrschein­lich andauern wird”, sagt Ostmittele­uropa-Experte Milan Nic von der DGAP. Gleichzeit­ig bahnen sich im Osten der EU neue Dynamiken an. Tusk orientiert sich in Sachen Sicherheit­spolitik zunehmend in Richtung Baltikum und den neuen Nato-Staaten Schweden und Finnland. Polen und die baltischen Staaten sehen Moskau als existenzie­lle Bedrohung und grenzen unmittelba­r an russisches Staatsgebi­et.

Für Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP) ist es allerdings zu früh, Visegrad ganz abzuschrei­ben. „Ein Grundinter­esse aneinander wird bestehen bleiben“, so der Experte. Es gebe genug gemeinsame Themen, wie zum Beispiel Klima, Energie oder Migration.

 ?? Foto: Petr David Josek, dpa ?? Die Ministerpr­äsidenten der Visegrad-Gruppe: Robert Fico (Slowakei), Donald Tusk (Polen), Petr Fiala (Tschechien) und Viktor Orbán (Ungarn). Der UkraineKri­eg sorgt für Streit zwischen den Staaten.
Foto: Petr David Josek, dpa Die Ministerpr­äsidenten der Visegrad-Gruppe: Robert Fico (Slowakei), Donald Tusk (Polen), Petr Fiala (Tschechien) und Viktor Orbán (Ungarn). Der UkraineKri­eg sorgt für Streit zwischen den Staaten.

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