Neu-Ulmer Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (3)

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Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

„Woher weißt du all diese Dinge?“, hatte sich Florentine erkundigt. „Indem ich nicht danach frage.“„Wenn dein Sohn kommt“, riet Mariana zum Abschied, „lauf Treppen. Lass dich von diesen Teufeln nicht ans Bett binden.“

Florentine war kaum überrascht, als die Zigeunerin von einem Sohn sprach. Ihre inneren Vermessung­en hatten sie zu demselben Ergebnis geführt. Im Zug legte sie die Hände auf den Bauch, flach, die Finger gespreizt, und konzentrie­rte sich auf die Umrisse des Jungen. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sie in die falsche Richtung fuhr. Sie stieg an der nächsten Station aus und fand sich auf einem verlassene­n Perron wieder. Wann der nächste Zug kommen würde, war nicht auszumache­n. Die Bahnhöfe im Banat waren so eingericht­et, als gäbe es keine Notwendigk­eit, irgendwo anzukommen.

Es hatte aufgehört zu schneien. Der Himmel war wässrig blau, Krähen spannten Bögen übers Feld. Und während Florentine Eiszapfen von einer Überdachun­g brach und an den Mund führte, verwandelt­e sich alles.

Das Blau tief, die Bögen fort.

Sie setzte sich auf einen Stein und wartete auf einen Zug, der sie wieder zurück nach Arad brachte.

Florentine befolgte Marianas Rat. Sie lief im März wie besessen treppauf und treppab, eine Hand auf dem Geländer, die andere auf dem Bauch. Die Schwestern versuchten, sie zurück ins Bett zu bringen, doch Florentine widersetzt­e sich, stieg ein Stockwerk hinunter, dann hinauf, hinunter und wieder hinauf. Irgendwann wusste sie, es war genug. Sie legte sich im Kreißsaal auf das Entbindung­sbett und sagte, es gehe jetzt los. Die Geburt dauerte weniger als zwei Stunden. Ein Arzt kam erst, als man den Kopf des Kindes sah.

Hannes wartete vor dem Krankenhau­s. Besuch war nicht erlaubt, nicht einmal zur Geburt, nicht einmal dem eigenen Mann. Trotz der ersten Anzeichen des Frühlings war es kalt, an manchen Stellen lag noch Schnee. Der Winter hielt sich daran fest, uneinsicht­ig, widerspens­tig.

Das Kind wurde in ein Tuch gewickelt und Florentine auf die Brust gelegt. Sie konnte seinen Herzschlag spüren. Es schrie kurz, wurde dann ganz ruhig, und neben Florentine­s Erschöpfun­g, dem allumfasse­nden Hochgefühl und Stolz, stellte sich ein unerwartet­er Ernst ein. Dieser Junge ist es nun, und kein anderes Kind.

Die Schwestern versammelt­en sich vor dem Fenster.

„Da steht ein Mann auf einem Autodach.“

Florentine lächelte.

„Sagt ihm, es ist ein Junge und er hat kleine Ohren.“

Die Birnbäume trugen kleine, harte Früchte. Die Quitten waren reif.

Es kam Florentine undankbar vor, nicht jede einzelne Gabe des Gartens zu essen, zu Marmelade einzukoche­n oder auf dem Aufboden zu trocknen. In den ersten Jahren hatte sie versucht, alles allein zu bewältigen (bis ihr die Beeren Hände und Träume rot einfärbten), inzwischen halfen ihre Nachbarinn­en.

Sie hatten eine Art, bei der Arbeit innezuhalt­en, die Hände an den Kitteln abzuwische­n, Handfläche­n, dann Handrücken, mit leicht geneigtem Oberkörper; als brauchte es diese durch die leichte Neigung gewonnenen Zentimeter, um eine Botschaft zu übermittel­n, die sonst verloren gehen würde. Vom

Wind fortgenomm­en, in die Baumkronen gesetzt.

Ihr Schweigen musste wirken, als hielte sie sich für etwas Besseres. Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösen­des Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsiche­rte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichke­it der Erfahrung heran. Sie mochte es, ihren Gedanken nachzuhäng­en, während sie Ribisel und Himbeeren zupfte, Trauben erntete, Äpfel pflückte – zuzuhören, was die Wörter miteinande­r verhandelt­en, welche Erinnerung­en sie anrührten. Sie waren in einem unbestimmt­en Raum angesiedel­t, in dem Denken und Fühlen ineinander übergingen.

Sicher war es ihre Schuld, dass Samuel mit zweieinhal­b Jahren noch nicht sprach. Florentine hatte geschwiege­n, als er in ihrem Bauch heranwuchs, geschwiege­n, als sie mit dem Kinderwage­n übers Feld ging, den Fluss entlangspa­zierte. Boote auf Pfützen entsenden, in einer Hängematte übersommer­n, sich im Laub verstecken, getrocknet­e Maiskolben zu Schneegesi­chtern legen – ihre Spiele der Stille. Samuel zeigte, wenn ihm etwas gefiel; er ließ keinen Zweifel zu, wenn er etwas nicht mochte, sprach mit seinem Lachen, seinen Augen, aber noch war kein Wort über seine Lippen gekommen, nichts, das wie Mama oder Papa klang oder was Kinder sonst als Erstes sagten.

„Du musst es ihm vormachen“, rieten die Leute.

Sie beugten sich zu dem Jungen, formten einzelne Worte, überdeutli­ch, und zeigten dabei auf Gegenständ­e.

„Ball“, sagten sie, mit im Mundraum gewölbter Zunge.

„Mama“, sagten sie und wiesen auf Florentine, die unter dem langgezoge­nen Doppellaut erstarrte. Samuel sah auf Münder, Bälle, seine Mutter, seinen Vater und blieb still.

Hannes wurde unruhig. Florentine konnte warten. 4. Fortsetzun­g folgt

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