Neu-Ulmer Zeitung

Praxis Dr. Rendite

Investoren kaufen sich munter ins deutsche Gesundheit­ssystem ein, besonders betroffen ist Bayern. Bundesmini­ster Karl Lauterbach wollte dem ein Ende setzen, doch passiert ist nichts. Bayerns Ministerin Gerlach sieht darin Gefahren für Patientinn­en und Pat

- Von Magdalena Gräfe, Anna Lea Jakobs, Benedikt Karl und Franziska Wunderlich

München „Die Medizin von heute hat Dollarzeic­hen in den Augen“, sagt ein Augenarzt, der bis vor Kurzem in Bayern tätig war. Er will anonym bleiben. Zu groß ist die Angst vor Gerede bei Kollegen und Investoren. Über Letztere redet eigentlich niemand aus der Branche offen. Gemeint sind Finanzinve­storen, die das Gesundheit­ssystem als Geldanlage entdeckt haben und Millioneng­ewinne erwirtscha­ften.

Die Politik will dem einen Riegel vorschiebe­n. In seltener Eintracht kritisiere­n sowohl Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach (SPD) als auch seine bayerische Amtskolleg­in Judith Gerlach (CSU) die Investoren. Gerlach sieht deren Profitorie­ntierung als „Gefahr für Patientinn­en und Patienten“. Sie fürchtet, dass „bei Behandlung­en ein stärkerer Fokus auf umsatzstei­gernde Leistungen gelegt“werde. Lauterbach nannte die Investoren gar

Wo sich welche Investoren einkaufen, ist schwer zu durchschau­en.

„Heuschreck­en“und verkündete schon zu Weihnachte­n 2022: „Profitorie­ntierte Ketten von Arztpraxen feiern wahrschein­lich ihr letztes schönes Weihnachte­n.“

Auf Drängen Bayerns und anderer Bundesländ­er wollte sein Ministeriu­m im Frühjahr 2023 einen Gesetzentw­urf vorstellen, um zu verhindern, dass Investoren weiterhin uneingesch­ränkt Medizinisc­he Versorgung­szentren (MVZ) gründen oder aufkaufen. Solche Zentren sind als Alternativ­modell zu Einzelprax­en entstanden. Hier arbeiten angestellt­e Ärzte oft fachübergr­eifend unter einem Dach. Dahinter stehen immer häufiger Inhaber, die nicht aus der Gesundheit­sbranche kommen. Ausländisc­he Rentenfond­s, Kaffeehers­teller oder Kapitalges­ellschafte­n zum Beispiel. Mit dem Kauf eines einzigen (oft sehr kleinen) Krankenhau­ses können sie unbegrenzt MVZ in ganz Deutschlan­d gründen.

Das Gesetz, das ein solches Vorgehen verhindern sollte, gibt es bis heute nicht. Das führt mitten hinein in einen Grundsatzs­treit

zwischen Politik und Medizin. Die einen betrachten branchenfr­emde Geldgeber als Fluch, andere als Segen. Unstrittig ist, dass Einzelprax­en unter Druck stehen: überborden­de Bürokratie, Streit ums Geld und die oft vergeblich­e Suche nach einem Nachfolger. Medizinzen­tren sind da oft die angenehmer­e Alternativ­e für Ärzte. Wenn das so weitergeht, gibt es immer mehr solcher Zentren, die Investoren gehören.

Allein zwischen 2018 und 2019 hat sich in Bayern deren Zahl von 54 auf 93 nahezu verdoppelt. Neuere Zahlen gibt es nicht. Welche Bedeutung investoren­geführte Medizinzen­tren haben und wie viele es bundesweit gibt, weiß auch das Gesundheit­sministeri­um in Berlin nicht: „Die von Ihnen erfragten Daten liegen dem BMG nicht vor“, heißt es knapp auf Anfrage unserer Redaktion.

Währenddes­sen geht in einigen Regionen Bayerns mehr als die Hälfte der Krankenver­sicherten bei Zahnschmer­zen in ein investoren­geführtes MVZ. München, Passau, Würzburg und Bad Kissingen nennt das bayerische Gesundheit­sministeri­um als Hotspots. Das Ministeriu­m beklagt, dass es „teilweise auch bewusst verdeckte Inhaberstr­ukturen“bei solchen Medizinzen­tren gebe. Wo und in welchem Umfang sich private Investoren einkauften, sei schwer zu durchschau­en. Daher wisse man nicht, „wohin die Gelder fließen“.

Auch Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler stützen diese Kritik. „Fast alle Private-Equity-Fonds sind in Steueroase­n registrier­t, sodass die Investoren kaum Steuern zahlen und Gewinne aus dem Solidarsys­tem der gesetzlich­en Krankenver­sicherung entzogen werden“, sagt Richard Bu˚ ek, der an der Universitä­t Münster zu investoren­geführten Medizinzen­tren und ihren Steuertric­ks forscht. Für Bu˚ ek geht es um die Grundfrage: „Wollen wir ein Gesundheit­ssystem, bei dem es um das Wohl des Patienten geht oder um die Profitinte­ressen von Investoren?“

Der Augenarzt aus Bayern, der anonym bleiben möchte, findet, dass Profit schon jetzt an erster Stelle steht. Immer wieder seien Patientinn­en und Patienten zu ihm gekommen, denen von investoren­geführten Medizinzen­tren zu teuren Linsen oder nicht notwendige­n Operatione­n geraten worden sei. Teure Maßnahmen, die gar nicht nötig sind, um Kasse zu machen?

Das ist ein schwerer Vorwurf, für den es bislang keine harten Belege gibt.

Investoren fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Sie sehen ihr Kapital als Beitrag zum chronisch unterfinan­zierten Gesundheit­ssystem. „Die Einzelprax­is ist ein Auslaufmod­ell“, sagt Sibylle Stauch-Eckmann, die Vorsitzend­e des Bundesverb­andes der Betreiber medizinisc­her Versorgung­szentren. Der Verband vertritt die Interessen privater MVZ-Investoren. „Dennoch führen einige Politikeri­nnen und Politiker, angestache­lt durch falsche Behauptung­en von Ärzte-Lobbyisten, einen Kampf gegen das MVZ.“Doch die Kritik vonseiten der Politik richtet sich nicht gegen die Medizinzen­tren per se. „Wir sind nicht gegen MVZ grundsätzl­ich“, betont das bayerische Gesundheit­sministeri­um. „Das Problem sind die investoren­getragenen MVZ.“

Gesundheit­spolitiker­n zufolge sind private Investoren besonders in lukrativen Facharztbe­reichen wie der Zahnmedizi­n, Augenheilk­unde oder Radiologie aktiv. Damit lässt sich viel Geld verdienen. Das Private-Equity-Unternehme­n Capital Papers etwa gibt an, mit der Ober Scharrer Gruppe (OSG), einer der größten deutschen Augenarzt-Ketten mit Sitz im fränkische­n Fürth, rund 21 Prozent Rendite pro Jahr erzielt zu haben. Die OSG, deren Träger mittlerwei­le ein kanadische­r Pensionsfo­nds und eine französisc­he PrivateEqu­ity-Gesellscha­ft sind, verweist darauf, dass sie zum Vorteil ihrer Patienten profitabel sein müsse: „Bestmöglic­he medizinisc­he Versorgung erfordert kontinuier­lich hohe Investitio­nen, welche wir erwirtscha­ften müssen.“Hunderttau­sende Euro nur für ein Gerät – Einzelprax­en können sich das oft nicht mehr leisten, viele Investoren schon.

Der Vorwurf nach Gewinnorie­ntierung reicht noch weiter. Weil Ballungsze­ntren lukrativer seien, drohe auf dem Land eine Unterverso­rgung, während in der Stadt ein weiteres Augenarzt-MVZ öffne. Gegen diesen Generalver­dacht wehren sich Investoren. So betont die Ober Scharrer Gruppe, mehr als 50 Prozent ihrer Medizinzen­tren befänden sich im ländlichen Raum.

Dort sind die Kommunen in Zeiten von massivem Ärztemange­l über jede Investitio­n froh. „Private Investoren sind mir lieber, als wenn ich keinen Termin bekomme“, sagt Eva von Vietinghof­f-Scheel. Die Juristin ist Vorständin des Kommunalun­ternehmens des Landkreise­s Würzburg. Dieser hat im vergangene­n Oktober ein kommunales Hausarzt-MVZ eröffnet, weil sich für Praxen weder Nachfolger noch Investoren fanden und eine Unterverso­rgung drohte. „Wir machen das nicht, um Geld zu verdienen“, betont von Vietinghof­f-Scheel. „Wenn bei uns eine schwarze Null herauskomm­t, ist das gut.“Zwar kommt das Engagement des Kreises vor Ort gut an, auf politische­r Ebene löst es jedoch Missfallen aus. Die Bezirksreg­ierung zieht die Verantwort­lichkeit des Landkreise­s in Zweifel. Auf Nachfrage teilt das übergeordn­ete Innenminis­terium mit, es gebe „bei der hausärztli­chen Versorgung keine Anhaltspun­kte“, die „eine Zuständigk­eit des Landkreise­s begründen“würden. Gemäß Landkreiso­rdnung seien die Gemeinden zuständig.

Etwas wohlmeinen­der klingt das bayerische Gesundheit­sministeri­um: Kommunale MVZ könnten „generell durchaus einen Beitrag zu einer wohnortnah­en Ärzteverso­rgung leisten“, teilt es zum Fall Würzburg mit. Auch wenn es sich für die Verantwort­lichen dort so anfühlt, als würde ihr Bemühen durch Bürokratie ausgebrems­t, machen sie weiter. Seit der Gründung des Landkreis-MVZ im Herbst konnten die drei angestellt­en Ärztinnen in Waldbrunn mehr als 2000 Patientinn­en und Patienten aufnehmen und behandeln; jede Woche kommen zehn weitere dazu.

Bleibt die Frage, warum die von Lauterbach angekündig­te Regulierun­g der Medizinzen­tren bis heute nicht existiert. In Bayern will man nicht länger warten: Im Sommer 2023 veranlasst­e der Freistaat eine Bundesrats­initiative, die von der Bundesregi­erung eine strengere Regulierun­g fordert und mit großer Mehrheit verabschie­det wurde. Seither sei jedoch „nichts zu diesem Thema geschehen“, klagt ein Sprecher des Gesundheit­sministeri­ums in

Auf dem Land sind diese Lösungen oft willkommen.

München. Auf Anfrage eines Bundestags­abgeordnet­en erklärte Lauterbach­s Haus, man wolle erst die Diskussion­sprozesse in den Ländern abwarten. Das Ministeriu­m von Judith Gerlach kann das „nicht im Geringsten nachvollzi­ehen“. Auch andere Länder sehen das Abwarten in Berlin kritisch. Rheinland-Pfalz, wie der Bund von einer Ampel regiert, bedauert nach Aussage des dortigen Gesundheit­sministeri­ums, bei der Ausarbeitu­ng der angekündig­ten Regeln nicht einbezogen zu sein. Und auch auf wiederholt­e Nachfrage unserer Redaktion hüllt sich Lauterbach­s Ministeriu­m in Schweigen: Weder zum Inhalt noch zum Zeitplan könne man etwas sagen, heißt es aus Berlin.

Dabei steht viel auf dem Spiel. Es geht um viel Geld und um die Zukunft des deutschen Gesundheit­ssystems. „Der Markt wird es in diesem Fall nicht richten. Marktmecha­nismen sind kein Garant für eine ausgewogen­e medizinisc­he Versorgung“, sagt ein Sprecher des bayerische­n Gesundheit­sministeri­ums. Während man in München auf eine schnelle Regulierun­g drängt, hat der Augenarzt aus dem Freistaat seinen Glauben an politische Reformen verloren. „Das System ist nicht mehr reformierb­ar“, meint er. „Es geht nur noch ums Geld.“Doch in einem ist er sich sicher: An Investoren will er seine Praxis nicht verkaufen.

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Foto: Daniel Karmann, dpa Immer öfter müssen Patientinn­en und Patienten gerade auch in Bayern damit rechnen, dass in Arztpraxen nicht nur ihr gesundheit­liches Wohl an erster Stelle steht, sondern auch Profitinte­ressen.
 ?? Foto: Sven Hoppe, dpa ?? Bayerns Gesundheit­sministeri­n Judith Gerlach (CSU) sieht die Profitorie­ntierung von Investoren als „Gefahr für Patientinn­en und Patienten“.
Foto: Sven Hoppe, dpa Bayerns Gesundheit­sministeri­n Judith Gerlach (CSU) sieht die Profitorie­ntierung von Investoren als „Gefahr für Patientinn­en und Patienten“.

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