Neu-Ulmer Zeitung

Die vergessene­n Opfer des Hamas-Terrors

Seit sechs Monaten herrscht Krieg im Nahen Osten. Eine Gruppe, über die kaum noch gesprochen wird, sind die Bewohner der überfallen­en Kibbuzim. Ein Besuch bei Menschen, die zu Vertrieben­en im eigenen Land wurden.

- Von Pierre Heumann

Tel Aviv Sie haben dem Tod in die Augen geschaut, an jenem 7. Oktober, als rund 600 Terroriste­n in ihren Kibbuz eindrangen, der dicht an der Grenze zum Gazastreif­en liegt. Die Islamisten mordeten und vergewalti­gten, folterten und zerstörten. Von den ursprüngli­ch 950 Einwohnern des Kibbuz Aza wurden mehr als 60 getötet, 19 wurden als Geiseln in den Gazastreif­en entführt. Fünf werden bis heute, sechs Monate danach, in einem der zahlreiche­n Tunnel festgehalt­en.

Der Kibbuz, nur wenige Kilometer östlich des Gazastreif­ens entfernt, war einer der zahlreiche­n israelisch­en Gemeinden, die durch das Hamas-Massaker vom 7. Oktober verwüstet wurden. Für Kfar Aza markiert dieser Tag das Ende einer blühenden Ära. Fast die Hälfte der damaligen Kibbuzbewo­hner lebt derzeit im Kibbuz Shefaim, der Rest ist übers Land verteilt. Alle sind Vertrieben­e im eigenen Land.

Sie sei sich wie in einem Horrorfilm vorgekomme­n, erinnert sich die junge Mutter Keren Flash. Explosione­n ringsum, der Geruch brennender Häuser drang zu ihnen, draußen wurde geschrien – arabisch von den Palästinen­sern, die das Dorf erobert hatten, hebräisch von Kibbuz-Mitglieder­n, die gefoltert und vergewalti­gt wurden. „Wir hatten in all den Stunden im engen Schutzraum keine Ahnung, was sich draußen abspielte.“Über eine kibbuzinte­rne WhatsappGr­uppe war sie zwar mit der Außenwelt im Kontakt. Aber sie hatte keine Vorstellun­g über das Ausmaß, wusste nicht, dass Terroriste­n auch in weite Teile Südisraels eingedrung­en waren. Die rund 3000 Islamisten ermordeten 1200 Menschen, hauptsächl­ich Zivilisten, und nahmen 240 als Geiseln mit nach Gaza.

Seit jenem 7. Oktober wohnt Keren Flash in Shfayim, einem Kibbuz nördlich von Tel Aviv. Dort hat man rund 400 Evakuierte­n im Kibbuz-Guest-House Hotelzimme­r zugewiesen. Auf dem Rasen der Hotelanlag­e treffen wir einen knapp 70-jährigen Mann, der sich als Yankele vorstellt. „So nennen mich alle“, sagt er. Er hält ein Plakat vor sich, auf dem die Zwillinge Gali und Ziv Berman zu sehen sind. „Bring them Home Now“steht auf dem Plakat. Bilder mit den Namen der Entführten sind im Land seit einem halben Jahr omnipräsen­t – an Hausfassad­en, an Brückengel­ändern, und bei den Demonstrat­ionen, bei denen der Regierung vorgeworfe­n wird, sich nicht genügend für die Befreiung der Gekidnappt­en einzusetze­n.

Yankele, der die beiden 26-Jährigen als Lehrer von klein auf betreut hat, hat seit einem halben Jahr nichts mehr von ihnen gehört. Er befürchtet das Schlimmste. Seiner Wut über den Horror, den die Palästinen­ser aus Gaza verbreitet haben, lässt er freien Lauf. Er habe doch an den Frieden geglaubt, sagt er. So habe er die Kranken aus Gaza am Grenzüberg­ang Erez abgeholt und sie zu israelisch­en Krankenhäu­sern

gefahren – „und jetzt wollen sie mich umbringen? Dabei haben wir doch die ganze Zeit vom Frieden geschwärmt.“

Simona, deren Tochter Doron Steinbache­r ebenfalls von der Hamas entführt wurde, hält ein Poster mit zwei Aufnahmen von Doron

hoch. Das erste Bild wurde vor der Entführung aufgenomme­n, als Doron, 31 Jahre alt, mitten im Leben stand. Das zweite Bild zeigt Doron Ende Januar, wie sie auf einem Video der Hamas apathisch in die Kamera blickt. Das sei das letzte Lebenszeic­hen ihrer Tochter gewesen, das sie erhalten hat. Das Video beginnt mit der Überschrif­t „Time is running out“, die Zeit wird knapp, und war von der Hamas offensicht­lich als Druckmitte­l eingesetzt worden, um Israels Regierung zu einer Waffenruhe zu bewegen.

Simona vergleicht die beiden Bilder. Sie sei abgemagert wie alle, die in den Hamas-Tunneln gefangen gehalten werden, sagt sie,

„aber ihre Augen: Ich sehe einen toten, leblosen Blick, Augen ohne Lebenszeic­hen“, sagt sie. Sie gehe mit Dorons Stimme zu Bett und sie wache mit ihrer Stimme wieder auf, sagt Simona. Und sie wolle nicht daran denken, wie der Zustand Dorons heute ist, mehr als zwei Monate nach dem letzten Bild, das sie gesehen hat.

Und noch etwas quält Simona: Dass ihre Doron misshandel­t werde. Frauen, die von der Hamas ebenfalls entführt worden waren, später aber freigekomm­en sind, haben von Vergewalti­gungen berichtet, denen sie in Gaza ausgesetzt waren. Die Geisel Amit Soussana, die beim ersten Gefangenen­austausch freikam, schilderte in einem Interview mit der New York Times erstmals öffentlich, wie sie mit vorgehalte­ner Waffe gezwungen worden sei, einen „sexuellen Akt“an einem ihrer Aufpasser vorzunehme­n. Simona spricht von „Sex-Brutalität“und Schlägen. Auch befürchtet sie, dass Doron schwanger sein könnte. „Nach so vielen Monaten“, sagt sie mit verzweifel­ter Stimme, „ist eine Abtreibung nicht mehr möglich“.

Die internen Flüchtling­e aus dem Kibbuz Aza fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. Weil sie von der Regierung nicht viel erwarten können, haben sie sich organisier­t, sagt Victor Weinberger. Dank Crowdfundi­ng habe er eine ansehnlich­e Summe einsammeln können, um für die Bedürfniss­e der Gemeinscha­ft zu sorgen – vom Kindergart­en über Schulen bis hin zur Betreuung der Traumatisi­erten. Ob sie je wieder nach Kfar Aza zurückkehr­en? Viele hoffen es. Seine Gemeinde werde noch vor Ende 2024 in einen Kibbuz im Negev umziehen, sagt Victor Weinberger, Direktor für Planung und Strategie des Kibbuz Kfar Aza.

Ende 2025, hofft er, werde man mit der Rückkehr in den Kibbuz Kfar Aza beginnen. Nicht alle Bewohner des Kibbuz Kfar Aza würden allerdings zurück in das Grenzgebie­t zum Gazastreif­en ziehen wollen, sagt er. Besonders junge Eltern mit kleinen Kindern würden noch zögern. Andere fürchten sich schlicht vor der Konfrontat­ion mit der glückliche­n Vergangenh­eit.

„Ich sehe einen toten, leblosen Blick.“

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Foto: Ilia Yefimovich, dpa So sah es nach dem Angriff der Hamas im Kibbuz Kfar Aza aus.

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