Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (5)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Das Haus hatte mehr Zimmerfluchten als sie Ausreden, mehr Fenster, als sie den Blick verschließen konnte. Sie hatte sich gewünscht, frei von Verantwortung zu sein. Aber vielleicht war ein Leben ohne Verpflichtung das Gegenteil von Glück.
Im Internat hatte es kein Wochenende ohne Partys gegeben. Den Unterricht brachte man hinter sich, nachmittags verdiente man sich etwas dazu, half in einer Konditorei aus, bügelte Hemden.
Von Freitag bis Sonntag wurden die Nächte durchgemacht. Florentine wollte immer zu den Letzten gehören. Zuletzt wurde am hemmungslosesten getanzt, war klar, wer mit wem nach Hause ging, spielte es keine Rolle, wer bezahlte, gab es jene Aktionen, von denen noch lange erzählt wurde: im Fluss schwimmen, zitternd vor Kälte; die Schlüssel des Hausmeisters stehlen und vom Dach etwas in die Nacht rufen.
Ihr Lieblingsgetränk war Bloody Mary, Tomatensaft mit Wodka, Pfeffer und Salz. Dazu Kent, Nationale rauchte sie nur, wenn sie wenig Geld hatte. Bei einem seiner Besuche entdeckte ihr Vater den überquellenden Aschenbecher auf dem Fenstersims. Dem Wind war die Aufgabe zugedacht, ihn zu leeren. Meist holte Florentine am Morgen einen ausgeräumten Aschenbecher vom Fenster herein.
Die Ohrfeige ihres Vaters traf sie ohne Vorwarnung.
Ganz offensichtlich war
es nächtens windstill gewesen. Florentines Kopf blieb abgewendet, die Hand des Vaters halb ausgestreckt, als wollte er sie nicht wieder an sich nehmen. Das ist das letzte Mal, dass du mich geschlagen hast, beschloss Florentine. Sie war es leid, für seine Launen herzuhalten, seit ihre Mutter fort war. Er war in Russland gewesen, zuerst im Krieg, dann in Gefangenschaft. Lange hatte ihre Mutter versucht, an ihr vormaliges Leben anzuknüpfen, dann war sie gegangen, wie jemand, der einkaufen geht, einen Freund besucht – ohne viel Gepäck, ohne viele Worte. Florentine wusste, sie hatte es versucht. Aber vielleicht hätte sie es länger versuchen, ihre Duldsamkeit ablegen, Grenzen setzen müssen; für die kleinen Kränkungen und die großen, unverzeihlichen.
Nach einem halben Jahr fragte Hannes, ob sie ihn heiraten und ins Banat übersiedeln wolle. Er lud sie ins Kaffeehaus ein. Als sie die Blumen unter dem Tisch sah, wusste sie Bescheid.
Florentine saß auf den Treppen zum Hinterhof mit der Umsicht eines stillen Gastes. Ihr früherer Widerstand hatte dazu geführt, dass sie sich etwas vorenthielt, etwas, das ihr jetzt, Morgen für Morgen, geschenkt wurde und das sie unter keinen Umständen verpassen wollte. Das Geheimnis war, immer zur selben Stunde im Hof aufzutauchen, bis man dazugehörte und sich das, was sich im Verborgenen vollzog, nicht mehr versteckte. Heute war zum ersten Mal eine klamme Feuchtigkeit auf den Treppen, ein dunkles Lila zwischen das Laub gestreut. Der Herbst setzte Weite zwischen die Häuser, rückte sie voneinander ab. Etwas nahm den Raum dazwischen ein, und Florentine war vollauf damit beschäftigt herauszufinden, was es war.
Bene und Lothar schliefen. Florentine richtete das Frühstück. Die letzten Tomaten aus dem Garten, Telemea, Brot, Pflaumenmarmelade und Akazienhonig, dazu Kaffee, im Topf gekocht. Sie bügelte das Beffchen auf, bürstete den Talar, kleidete sich und Samuel an.
Der Mesner begrüßte sie am Seiteneingang. Die Kirche war kühl und dämmrig, obwohl Kerzen brannten. Florentine legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne, mit denen die Decke des Kirchenraums ausgemalt war. Schlichte, schwarze, regelmäßig übers Weiß gestreute Sterne. Die Glocken läuteten, die Kirche füllte sich, Frauen auf einer, Männer auf der anderen Seite. Samuel war bei der Organistin auf der Empore und nur schwer davon zu überzeugen, mit Florentine mitzugehen, als die ersten Orgeltöne angespielt wurden.
Der Mann, der die Treppe zur Kanzel hinaufstieg, war ein anderer als jener, mit dem sie das Bett teilte, die Mahlzeiten einnahm, stritt, lachte und diskutierte. Er war befähigt, Gottes Segen zu erteilen, und es gab kaum einen Kirchgang, bei dem Florentine nicht über diesen Unterschied nachdachte. Seine Stimme war anders, seine Haltung. Seine Worte waren nachdrücklich, seine Gesten ruhig, und sie bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der er diese Rolle einnahm. Während der Predigt ging ihr Blick erneut zum Sternenhimmel. Sie hatte eine Weile gebraucht, um sein Geheimnis zu verstehen. Er setzte sich aus drei Formen zusammen: vierzackige, sechszackige und runde, wie kleine Sonnen. Sie waren mit einer Regelmäßigkeit ausgestreut, die ihr beispiellos vorkam. Jeder Stern fand seinen Platz, hielt Abstand und schien doch die Nähe der anderen zu brauchen. Samuel sah ebenfalls hinauf. Ihre Hände lagen nah beieinander.
Als der Gottesdienst zu Ende war, verabschiedete sie mit Hannes die Besucher. Unter den Kastanien verblieben Gruppen im Gespräch – der Kirchgang war so eingerichtet, dass man, wie nebenbei, alles über die anderen erfuhr.
6. Fortsetzung folgt