Rotoren im Reich des Rotmilans
Das Dorf Klettenacker auf der Schwäbischen Alb ist ein Paradies für den Jagdvogel, ein Viertel seines gesamten Bestandes in Deutschland lebt hier. Doch hier soll ein Windpark entstehen. Das gefällt Naturschützern gar nicht.
Gammertingen Viele Wiesen, viele Wälder, viel Natur: Es ist schon sehr ländlich, wenn man die letzten Kilometer, aus dem Süden kommend, in Richtung Kettenacker fährt, einem Stadtteil von Gammertingen im Landkreis Sigmaringen. Hier, auf der Schwäbischen Alb, könnten sich Hase und Igel Gute Nacht sagen – oder auch eines der vielen anderen Tiere, die sich rund um Kettenacker, einem Dorf mit nur 250 Einwohnern, wohlfühlen. Vor allem dem bedrohten Rotmilan scheint die ruhige Gegend gut zu gefallen, hier nistet er gerne und pflanzt sich fort. Baden-Württemberg – allen voran die Schwäbische Alb – beherbergt mit hochgerechnet fast 4500 Brutpaaren ein Viertel des deutschen und fast zwölf Prozent des europäischen Rotmilanbestands.
Doch genau hier, in diesem für den Rotmilan so wichtigen Lebensraum, werden wohl bald mehrere Windräder gebaut. Zumindest hat der Regionalverband Bodensee-Oberschwaben ein Gebiet etwas südöstlich von Kettenacker und noch mal eines nordwestlich, bei den Nachbarorten Feldhausen und Harthausen, als sogenannte Vorranggebiete für Standorte von Windenergieanlagen ausgeschrieben.
Der Regionalverband stützt sich dabei auf einen vom Land in Auftrag gegebenen und von der Landesanstalt für Umwelt (LUBW) erarbeiteten „Fachbeitrag Artenschutz“. Die veröffentlichten Daten seien für einen Großteil der artenschutzrechtlichen Betrachtungen eine gute und ausreichende Grundlage für die Regionalplanungsträger, sagt eine Sprecherin des Umweltministeriums in Stuttgart, an das die LUBW angeschlossen ist. „Die Berücksichtigung des Fachbeitrags trägt zu einer großräumig wirksamen Konfliktminderung zwischen dem Windenergieausbau und dem Artenschutz bei“, sagt die Sprecherin.
Konfliktminderung trifft zumindest für Kettenacker aber nicht wirklich zu. Denn hier ist man auf das Ministerium und die LUBW richtig sauer. „Der Artenschutzbericht der LUBW ist löchrig wie ein Schweizer Käse und darf so nicht als Grundlage für die Regionalplanung herangezogen werden“, sagt Birgit Steinhart. Sie ist im Vorstandsteam des „Vereins für Mensch und Natur Kettenacker“, einem Bündnis von Bürgern aus der Region, denen die Natur vor ihrer Haustür am Herzen liegt, wie Steinhart erklärt.
Schon 2011 hatte der Regionalverband in dem Bereich rund um Kettenacker
Windräder aufstellen wollen. Dann formierte sich Widerstand im Ort. „Damals war das aber schnell vom Tisch, weil festgestellt worden ist, dass wir hier zu wenig Wind haben“, sagt Steinhart. 2015 ploppte das Thema wieder auf, dieses Mal war ein Gebiet im Süden vorgesehen. Doch der Rotmilan residierte auch damals schon gerne auf der Schwäbischen Alb. „Da hatte der Naturschutz noch einen anderen Stellenwert. Es galt die Regel, dass 1000 Meter von einem Milanhorst entfernt kein Windrad gebaut werden darf“, erzählt Steinhart. Wieder seien die Pläne vorerst verworfen worden.
Doch der Verein begann seinerzeit, ehrenamtlich die Horste des Rotmilans in den Wäldern rund um Kettenacker zu dokumentieren. „Seit 2015 haben wir als Verein in jedem Jahr lückenlos ein externes Gutachten von der Milanpopulation erstellen lassen“, erklärt Steinhart. Die Gutachten
Der Überschuss an Tieren hier gleicht laut einer Expertin den weltweiten Rückgang etwas aus.
hätten Tausende Euro gekostet, finanziert von den rund 60 Mitgliedern des Vereins.
Schon 2015 habe man Kontakt zur LUBW aufgenommen, um nachzufragen, wie die Gutachten aktenkundig werden können. „Die LUBW hat uns dann an die untere Naturschutzbehörde verwiesen, sprich: das Landratsamt Sigmaringen. Dort liegen seit neun Jahren unsere dokumentierten Gutachten zur Rotmilanpopulation“, so Steinhart. In jedem Jahr seien rund um Kettenacker Brutpaare im zweistelligen Bereich gesichtet worden.
Doch im Artenschutzbericht der LUBW, der für die Vergabe der Flächen für die Windräder entscheidend ist, bleibt der Rotmilan in dieser Gegend unerwähnt. Die Dokumentationen und Gutachten, die im Landratsamt amtlich hinterlegt sind, wurden von der LUBW nicht abgerufen. Für die ehrenamtlichen Vereinsmitglieder, die bei der Suche nach Milanhorsten extrem viel Zeit investiert haben, sei das niederschmetternd, sagt Steinhart. „So viel Aufwand – und jetzt zählt für die Ausschreibung von Windkraft nur eine stichpunktartige Untersuchung der LUBW.“Das dürfe nicht sein. „Man kann die Daten ja nicht totschweigen. Die muss man berücksichtigen, sonst ist der Naturschutz begraben“, sagt sie.
Das Umweltministerium gibt offen zu, dass möglicherweise in einzelnen Gebieten bei bestimmten Arten eine höhere Population festgestellt werden kann. Aber: „Wenn in Teilgebieten von Baden-Württemberg mit einem Erfassungsaufwand kartiert wurde, der ein Vielfaches des Aufwandes auf der restlichen Fläche beträgt, können die Ergebnisse nicht sinnvoll miteinander verglichen werden“, so die Sprecherin des Ministeriums.
Bei der Erarbeitung des Fachbeitrages sei es besonders wichtig, landesweit vergleichbare Daten zu verwenden. Außerdem seien konkrete Horststandorte räumlich sehr variabel. „Da auf Regionalplanebene beispielsweise die konkreten Anlagenstandorte noch nicht feststehen und eine Anlagenrealisierung oftmals erst Jahre nach Abschluss der Planung erfolgt, sind die in der Regel räumlich und zeitlich variablen Horststandorte für eine (...) angemessene artenschutzrechtliche Bewertung nur sehr bedingt geeignet“, teilt die Sprecherin mit. Mit dem Fachbeitrag Artenschutz für die Regionalplanung Windenergie habe das Ministerium einen wichtigen Beitrag zur Berücksichtigung des Artenschutzes geliefert.
Doch vor wenigen Monaten kam aus Sicht der Naturschützer aus Kettenacker wissenschaftlicher Zuspruch für ihr Anliegen. Marion Gschweng, Biologin und europaweit führende Milanspezialistin, hat das Gebiet der Schwäbischen Alb in Bezug auf den Rotmilan untersucht und wissenschaftlich analysiert. Das Ergebnis ihrer
Publikation, die vergangenen Dezember veröffentlicht wurde: Die Schwäbische Alb ist das neue Weltdichtezentrum des Rotmilans. „Weil hier so viele Brutpaare vorkommen und entsprechend auch viele Nachkommen erzeugt werden, gibt es auf der Schwäbischen Alb einen Überschuss von Rotmilanen“, erklärt die Biologin. Dieser leichte Überschuss an Jungvögeln gleiche die weltweiten Populationsrückgänge, etwa in Frankreich oder Spanien, zumindest ein wenig aus.
„Deshalb ist dieses Weltdichtezentrum ziemlich wertvoll und muss streng geschützt werden“, sagt Gschweng. Ihrer
Windkraftausbau in Baden-Württemberg? Von 1000 geplanten Anlagen wurden nur 15 gebaut.
Meinung nach sei es hochproblematisch, inmitten einer so großen Population an Rotmilanen Windkraftanlagen zu bauen. Die Vögel würden mit den Windrädern kollidieren und die Anlagen den Lebensraum der Tiere massiv verändern. „Fachlich gesehen läuft die Umsetzung mit der Windkraft ganz schön schief“, beklagt die Expertin. „Wir können ja nicht nur auf den Rotmilan schauen, es gibt noch viele andere Vögel wie auch Fledermausarten, die durch die Windkraft auf der Schwäbischen Alb gefährdet werden.“
Den Fachbericht Artenschutz der LUBW hält sie dagegen fachlich für absolut korrekt. „Die LUBW hat deshalb weniger Rotmilan-Brutpaare gefunden als wir, weil sie andere Vorgaben hat“, erklärt Gschweng. Wenn die Behörde professionelle Kartierer ins Feld schickt, die die Population des Rotmilans in einem gewissen Gebiet feststellen sollen, bekommen die logischerweise eine bestimmte Stundenvorgabe – und die ist limitiert und liegt deutlich unter den Stunden, die ehrenamtliche Naturschützer im Wald verbringen. „Das bedingt, dass man nur eine bestimmte Anzahl von Brutpaaren finden kann“, so Gschweng.
Die LUBW müsse aber Vorgaben für professionelle Kartierer machen. „Die können ja nicht sagen, geht so lange ihr wollt ins Feld – und wir bezahlen euch das nachher.“In anderen Bundesländern seien die Erfassungszeiten für den Artenschutz sogar nochmals geringer. „Das, was die ehrenamtlichen Helfer sichten, kann ein professioneller Kartierer zeitlich gar nicht leisten“, sagt Gschweng. Um eine Vergleichbarkeit von Daten zu erlangen, brauche es klare Vorgaben und eine einheitliche Methodik.
Die aktuelle Methodik kritisiert die Biologin aber sehr wohl, weil sie sie nicht für ausreichend hält. Es sollte berücksichtigt werden, dass ein professioneller Kartierer nur eine geringere Zahl an Brutpaaren finden kann, meint Gschweng. „Wenn ein Kartierer beispielsweise fünf Brutpaare findet, kann man davon ausgehen, dass es wahrscheinlich eher acht sind. Man könnte also konsequent einen Prozentsatz von beispielsweise 30 Prozent an Brutpaaren dazurechnen – aber das macht natürlich keiner“, sagt die Milanexpertin. Sie kann trotz allem die behördliche Seite verstehen, die einen Mittelweg finden muss. „Die LUBW ist sicher nicht der Buhmann. Die politischen Entscheidungen in Berlin und Stuttgart sind hier das Problem“, betont die Biologin.
Die Vorgaben für die Erhebungen von Windkraftplanungen seien vonseiten der Politik immer weiter heruntergesetzt worden. Die grün-schwarze Regierung wollte bis zum Jahr 2026 eigentlich 1000 neue Windräder bauen, doch im vergangenen Jahr hinkte Baden-Württemberg, wie ja auch Bayern, seinen Zielen hinterher – 2023 wurden 15 neue Windräder errichtet.
Angesprochen auf die wissenschaftliche Einstufung der Schwäbischen Alb als Weltdichtezentrum des Rotmilans, heißt es vonseiten des Ministeriums: „Die von Frau Gschweng zusammengetragenen Daten konnten aufgrund der methodischen Unterschiede bei der Erfassung nicht für die Ausarbeitung des Fachbeitrags Artenschutz verwendet werden.“
Für die Vereinsmitglieder rund um Kettenacker ist das frustrierend. „Wir müssen doch so eine wissenschaftliche Arbeit mit einfließen lassen, wenn wir Gebiete für Windkraftanlagen ausschreiben. Wir verstehen nicht, warum das nicht passiert“, sagt Birgit Steinhart. Aus Sicht des Vereins werde die Natur rund um Kettenacker gerade zur Industrielandschaft umgebaut. „Eine Energiewende muss aber für Natur und Mensch verträglich sein.“Es werde politisch derzeit alles dem Ausbau der erneuerbaren Energien untergeordnet, moniert Steinhart. „Darunter leiden der Artenschutz, die Biodiversität, die Landwirtschaft und auch die Bürger“, sagt sie.
Doch der Artenschutzbericht der LUBW bleibt wohl die Grundlage für den Plan von Windkraftstandorten in BadenWürttemberg. Und so werden sich aller Voraussicht nach in ein paar Jahren hier rund um Kettenacker im Kreis Sigmaringen einige Windräder drehen – mitten im Weltdichtezentrum des Rotmilans.