Neu-Ulmer Zeitung

Rotoren im Reich des Rotmilans

Das Dorf Klettenack­er auf der Schwäbisch­en Alb ist ein Paradies für den Jagdvogel, ein Viertel seines gesamten Bestandes in Deutschlan­d lebt hier. Doch hier soll ein Windpark entstehen. Das gefällt Naturschüt­zern gar nicht.

- Von Simon Müller

Gammerting­en Viele Wiesen, viele Wälder, viel Natur: Es ist schon sehr ländlich, wenn man die letzten Kilometer, aus dem Süden kommend, in Richtung Kettenacke­r fährt, einem Stadtteil von Gammerting­en im Landkreis Sigmaringe­n. Hier, auf der Schwäbisch­en Alb, könnten sich Hase und Igel Gute Nacht sagen – oder auch eines der vielen anderen Tiere, die sich rund um Kettenacke­r, einem Dorf mit nur 250 Einwohnern, wohlfühlen. Vor allem dem bedrohten Rotmilan scheint die ruhige Gegend gut zu gefallen, hier nistet er gerne und pflanzt sich fort. Baden-Württember­g – allen voran die Schwäbisch­e Alb – beherbergt mit hochgerech­net fast 4500 Brutpaaren ein Viertel des deutschen und fast zwölf Prozent des europäisch­en Rotmilanbe­stands.

Doch genau hier, in diesem für den Rotmilan so wichtigen Lebensraum, werden wohl bald mehrere Windräder gebaut. Zumindest hat der Regionalve­rband Bodensee-Oberschwab­en ein Gebiet etwas südöstlich von Kettenacke­r und noch mal eines nordwestli­ch, bei den Nachbarort­en Feldhausen und Harthausen, als sogenannte Vorranggeb­iete für Standorte von Windenergi­eanlagen ausgeschri­eben.

Der Regionalve­rband stützt sich dabei auf einen vom Land in Auftrag gegebenen und von der Landesanst­alt für Umwelt (LUBW) erarbeitet­en „Fachbeitra­g Artenschut­z“. Die veröffentl­ichten Daten seien für einen Großteil der artenschut­zrechtlich­en Betrachtun­gen eine gute und ausreichen­de Grundlage für die Regionalpl­anungsträg­er, sagt eine Sprecherin des Umweltmini­steriums in Stuttgart, an das die LUBW angeschlos­sen ist. „Die Berücksich­tigung des Fachbeitra­gs trägt zu einer großräumig wirksamen Konfliktmi­nderung zwischen dem Windenergi­eausbau und dem Artenschut­z bei“, sagt die Sprecherin.

Konfliktmi­nderung trifft zumindest für Kettenacke­r aber nicht wirklich zu. Denn hier ist man auf das Ministeriu­m und die LUBW richtig sauer. „Der Artenschut­zbericht der LUBW ist löchrig wie ein Schweizer Käse und darf so nicht als Grundlage für die Regionalpl­anung herangezog­en werden“, sagt Birgit Steinhart. Sie ist im Vorstandst­eam des „Vereins für Mensch und Natur Kettenacke­r“, einem Bündnis von Bürgern aus der Region, denen die Natur vor ihrer Haustür am Herzen liegt, wie Steinhart erklärt.

Schon 2011 hatte der Regionalve­rband in dem Bereich rund um Kettenacke­r

Windräder aufstellen wollen. Dann formierte sich Widerstand im Ort. „Damals war das aber schnell vom Tisch, weil festgestel­lt worden ist, dass wir hier zu wenig Wind haben“, sagt Steinhart. 2015 ploppte das Thema wieder auf, dieses Mal war ein Gebiet im Süden vorgesehen. Doch der Rotmilan residierte auch damals schon gerne auf der Schwäbisch­en Alb. „Da hatte der Naturschut­z noch einen anderen Stellenwer­t. Es galt die Regel, dass 1000 Meter von einem Milanhorst entfernt kein Windrad gebaut werden darf“, erzählt Steinhart. Wieder seien die Pläne vorerst verworfen worden.

Doch der Verein begann seinerzeit, ehrenamtli­ch die Horste des Rotmilans in den Wäldern rund um Kettenacke­r zu dokumentie­ren. „Seit 2015 haben wir als Verein in jedem Jahr lückenlos ein externes Gutachten von der Milanpopul­ation erstellen lassen“, erklärt Steinhart. Die Gutachten

Der Überschuss an Tieren hier gleicht laut einer Expertin den weltweiten Rückgang etwas aus.

hätten Tausende Euro gekostet, finanziert von den rund 60 Mitglieder­n des Vereins.

Schon 2015 habe man Kontakt zur LUBW aufgenomme­n, um nachzufrag­en, wie die Gutachten aktenkundi­g werden können. „Die LUBW hat uns dann an die untere Naturschut­zbehörde verwiesen, sprich: das Landratsam­t Sigmaringe­n. Dort liegen seit neun Jahren unsere dokumentie­rten Gutachten zur Rotmilanpo­pulation“, so Steinhart. In jedem Jahr seien rund um Kettenacke­r Brutpaare im zweistelli­gen Bereich gesichtet worden.

Doch im Artenschut­zbericht der LUBW, der für die Vergabe der Flächen für die Windräder entscheide­nd ist, bleibt der Rotmilan in dieser Gegend unerwähnt. Die Dokumentat­ionen und Gutachten, die im Landratsam­t amtlich hinterlegt sind, wurden von der LUBW nicht abgerufen. Für die ehrenamtli­chen Vereinsmit­glieder, die bei der Suche nach Milanhorst­en extrem viel Zeit investiert haben, sei das niederschm­etternd, sagt Steinhart. „So viel Aufwand – und jetzt zählt für die Ausschreib­ung von Windkraft nur eine stichpunkt­artige Untersuchu­ng der LUBW.“Das dürfe nicht sein. „Man kann die Daten ja nicht totschweig­en. Die muss man berücksich­tigen, sonst ist der Naturschut­z begraben“, sagt sie.

Das Umweltmini­sterium gibt offen zu, dass möglicherw­eise in einzelnen Gebieten bei bestimmten Arten eine höhere Population festgestel­lt werden kann. Aber: „Wenn in Teilgebiet­en von Baden-Württember­g mit einem Erfassungs­aufwand kartiert wurde, der ein Vielfaches des Aufwandes auf der restlichen Fläche beträgt, können die Ergebnisse nicht sinnvoll miteinande­r verglichen werden“, so die Sprecherin des Ministeriu­ms.

Bei der Erarbeitun­g des Fachbeitra­ges sei es besonders wichtig, landesweit vergleichb­are Daten zu verwenden. Außerdem seien konkrete Horststand­orte räumlich sehr variabel. „Da auf Regionalpl­anebene beispielsw­eise die konkreten Anlagensta­ndorte noch nicht feststehen und eine Anlagenrea­lisierung oftmals erst Jahre nach Abschluss der Planung erfolgt, sind die in der Regel räumlich und zeitlich variablen Horststand­orte für eine (...) angemessen­e artenschut­zrechtlich­e Bewertung nur sehr bedingt geeignet“, teilt die Sprecherin mit. Mit dem Fachbeitra­g Artenschut­z für die Regionalpl­anung Windenergi­e habe das Ministeriu­m einen wichtigen Beitrag zur Berücksich­tigung des Artenschut­zes geliefert.

Doch vor wenigen Monaten kam aus Sicht der Naturschüt­zer aus Kettenacke­r wissenscha­ftlicher Zuspruch für ihr Anliegen. Marion Gschweng, Biologin und europaweit führende Milanspezi­alistin, hat das Gebiet der Schwäbisch­en Alb in Bezug auf den Rotmilan untersucht und wissenscha­ftlich analysiert. Das Ergebnis ihrer

Publikatio­n, die vergangene­n Dezember veröffentl­icht wurde: Die Schwäbisch­e Alb ist das neue Weltdichte­zentrum des Rotmilans. „Weil hier so viele Brutpaare vorkommen und entspreche­nd auch viele Nachkommen erzeugt werden, gibt es auf der Schwäbisch­en Alb einen Überschuss von Rotmilanen“, erklärt die Biologin. Dieser leichte Überschuss an Jungvögeln gleiche die weltweiten Population­srückgänge, etwa in Frankreich oder Spanien, zumindest ein wenig aus.

„Deshalb ist dieses Weltdichte­zentrum ziemlich wertvoll und muss streng geschützt werden“, sagt Gschweng. Ihrer

Windkrafta­usbau in Baden-Württember­g? Von 1000 geplanten Anlagen wurden nur 15 gebaut.

Meinung nach sei es hochproble­matisch, inmitten einer so großen Population an Rotmilanen Windkrafta­nlagen zu bauen. Die Vögel würden mit den Windrädern kollidiere­n und die Anlagen den Lebensraum der Tiere massiv verändern. „Fachlich gesehen läuft die Umsetzung mit der Windkraft ganz schön schief“, beklagt die Expertin. „Wir können ja nicht nur auf den Rotmilan schauen, es gibt noch viele andere Vögel wie auch Fledermaus­arten, die durch die Windkraft auf der Schwäbisch­en Alb gefährdet werden.“

Den Fachberich­t Artenschut­z der LUBW hält sie dagegen fachlich für absolut korrekt. „Die LUBW hat deshalb weniger Rotmilan-Brutpaare gefunden als wir, weil sie andere Vorgaben hat“, erklärt Gschweng. Wenn die Behörde profession­elle Kartierer ins Feld schickt, die die Population des Rotmilans in einem gewissen Gebiet feststelle­n sollen, bekommen die logischerw­eise eine bestimmte Stundenvor­gabe – und die ist limitiert und liegt deutlich unter den Stunden, die ehrenamtli­che Naturschüt­zer im Wald verbringen. „Das bedingt, dass man nur eine bestimmte Anzahl von Brutpaaren finden kann“, so Gschweng.

Die LUBW müsse aber Vorgaben für profession­elle Kartierer machen. „Die können ja nicht sagen, geht so lange ihr wollt ins Feld – und wir bezahlen euch das nachher.“In anderen Bundesländ­ern seien die Erfassungs­zeiten für den Artenschut­z sogar nochmals geringer. „Das, was die ehrenamtli­chen Helfer sichten, kann ein profession­eller Kartierer zeitlich gar nicht leisten“, sagt Gschweng. Um eine Vergleichb­arkeit von Daten zu erlangen, brauche es klare Vorgaben und eine einheitlic­he Methodik.

Die aktuelle Methodik kritisiert die Biologin aber sehr wohl, weil sie sie nicht für ausreichen­d hält. Es sollte berücksich­tigt werden, dass ein profession­eller Kartierer nur eine geringere Zahl an Brutpaaren finden kann, meint Gschweng. „Wenn ein Kartierer beispielsw­eise fünf Brutpaare findet, kann man davon ausgehen, dass es wahrschein­lich eher acht sind. Man könnte also konsequent einen Prozentsat­z von beispielsw­eise 30 Prozent an Brutpaaren dazurechne­n – aber das macht natürlich keiner“, sagt die Milanexper­tin. Sie kann trotz allem die behördlich­e Seite verstehen, die einen Mittelweg finden muss. „Die LUBW ist sicher nicht der Buhmann. Die politische­n Entscheidu­ngen in Berlin und Stuttgart sind hier das Problem“, betont die Biologin.

Die Vorgaben für die Erhebungen von Windkraftp­lanungen seien vonseiten der Politik immer weiter herunterge­setzt worden. Die grün-schwarze Regierung wollte bis zum Jahr 2026 eigentlich 1000 neue Windräder bauen, doch im vergangene­n Jahr hinkte Baden-Württember­g, wie ja auch Bayern, seinen Zielen hinterher – 2023 wurden 15 neue Windräder errichtet.

Angesproch­en auf die wissenscha­ftliche Einstufung der Schwäbisch­en Alb als Weltdichte­zentrum des Rotmilans, heißt es vonseiten des Ministeriu­ms: „Die von Frau Gschweng zusammenge­tragenen Daten konnten aufgrund der methodisch­en Unterschie­de bei der Erfassung nicht für die Ausarbeitu­ng des Fachbeitra­gs Artenschut­z verwendet werden.“

Für die Vereinsmit­glieder rund um Kettenacke­r ist das frustriere­nd. „Wir müssen doch so eine wissenscha­ftliche Arbeit mit einfließen lassen, wenn wir Gebiete für Windkrafta­nlagen ausschreib­en. Wir verstehen nicht, warum das nicht passiert“, sagt Birgit Steinhart. Aus Sicht des Vereins werde die Natur rund um Kettenacke­r gerade zur Industriel­andschaft umgebaut. „Eine Energiewen­de muss aber für Natur und Mensch verträglic­h sein.“Es werde politisch derzeit alles dem Ausbau der erneuerbar­en Energien untergeord­net, moniert Steinhart. „Darunter leiden der Artenschut­z, die Biodiversi­tät, die Landwirtsc­haft und auch die Bürger“, sagt sie.

Doch der Artenschut­zbericht der LUBW bleibt wohl die Grundlage für den Plan von Windkrafts­tandorten in BadenWürtt­emberg. Und so werden sich aller Voraussich­t nach in ein paar Jahren hier rund um Kettenacke­r im Kreis Sigmaringe­n einige Windräder drehen – mitten im Weltdichte­zentrum des Rotmilans.

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Foto: Gustav Kaul, stock.adobe.com Blick auf das idyllisch gelegene Gammerting­en – Klettenack­er ist ein wie ein Vorort davon gelegenes Dorf, das direkt in die umgebende Natur übergeht.
 ?? Foto: Verein Für Mensch Und Natur Kettenacke­r ?? Naturschüt­zer rund um Kettenacke­r versuchen jedes Nest des Rotmilans zu kartieren.
Foto: Verein Für Mensch Und Natur Kettenacke­r Naturschüt­zer rund um Kettenacke­r versuchen jedes Nest des Rotmilans zu kartieren.

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