Neu-Ulmer Zeitung

Der etwas andere Schäuble

Ein verkappter Schwarz-Grüner? Minderheit­sregierung statt Großer Koalition? Mit Merkel ins Kino? Die Memoiren des im Dezember gestorbene­n CDU-Politikers bergen einige Überraschu­ngen.

- Von Rudi Wais

Berlin Wie die Zeiten sich ändern, haben wenige Menschen in Deutschlan­d so hautnah miterlebt wie Wolfgang Schäuble. Als der junge Abgeordnet­e aus dem Badischen 1972 zum ersten Mal in den Bundestag einzieht, sitzt in der Unionsfrak­tion ein paar Plätze weiter Ludwig Erhard, der Vater des Wirtschaft­swunders – ein Mann, der noch im Kaiserreic­h aufgewachs­en ist. Als Schäuble im September 2021 zum letzten Mal wiedergewä­hlt wird, gehören dem Parlament schon etliche Abgeordnet­e an, die erst nach dem Fall der Mauer geboren wurden. „Viele Kollegen“, denkt er sich da, „könnten nicht mehr nur meine Kinder, sondern längst meine Enkel sein.“

Am 26. Dezember ist Schäuble im Alter von 81 Jahren gestorben. Keine zwei Wochen zuvor erst hatte er die Arbeit an seinen Memoiren abgeschlos­sen, die an diesem Montag posthum erscheinen und deren interessan­tester Aspekt nicht jene kurze, schon vorab bekannt gewordene Passage ist, nach der Edmund Stoiber ihn auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise aufgeforde­rt hat, die damalige Bundeskanz­lerin Angela Merkel zu stürzen. Das Buch, gut 600 Seiten stark, zeigt einen Schäuble, der offenbar bei Weitem nicht der stramme Konservati­ve war, für den vor allem seine politische­n Gegner ihn gerne gehalten haben.

Willy Brandts Ostpolitik etwa, von den Unionspart­eien lange als eine Art Vaterlands­verrat bekämpft, fand er als junger Mann schon „visionär“, während Konrad Adenauer ihm mit den Jahren immer fremder geworden sei. Helmut Schmidts humanistis­che Bildung, gesteht Schäuble, habe ihn ebenso fasziniert wie Joschka Fischers enormes politische­s Talent. In mancherlei Hinsicht sei ihm das grüne Milieu sogar näher gewesen als die Klientel des langjährig­en Koalitions­partners FDP – und das nicht erst, als in seinem Heimatort Gengenbach ein CDU-Mann mit den Stimmen der Grünen zum Bürgermeis­ter gewählt wurde.

Wolfgang Schäuble, ein verkappter Schwarz-Grüner? Nach dem Scheitern der Gespräche über ein Jamaika-Bündnis mit Liberalen und Grünen 2017 warnt er Angela Merkel davor, wieder die SPD ins Boot zu holen: „Stattdesse­n sollte sie auch ohne eine Koalition die Kanzlerwah­l riskieren.“Spätestens im dritten Wahlgang sei ihr eine klare relative Mehrheit sicher, argumentie­rt Schäuble. Und wenn der Bundespräs­ident sie zur Kanzlerin ernennen würde, woran kein Zweifel bestanden hätte, „wäre ihre Stellung nach dem Grundgeset­z so stark, dass sie damit gut hätte regieren können.“Deutlicher hat bisher kein Spitzenpol­itiker für eine Minderheit­sregierung in Deutschlan­d plädiert, die sich auf wechselnde Mehrheiten stützt.

Mit Angela Merkel, die seinen Rat ausschlägt und sich für eine Neuauflage der Großen Koalition entscheide­t, verband Schäuble ein höchst ambivalent­es Verhältnis. „Über lange Zeit hat sie unser Land gut geführt“, räumt er ein. Ihr abwartende­r Führungsst­il mit dem weitgehend­en Verzicht auf inhaltlich­e Auseinande­rsetzungen aber habe seine Loyalität immer wieder strapazier­t. Als er in den Strudel der CDU-Spendenaff­äre gerät und als Partei- und Fraktionsc­hef zurücktret­en muss, habe sie die Lage allerdings viel früher erkannt als er selbst. So eng wie er mit Helmut Kohl verwoben war, sei sein Sturz unausweich­lich gewesen.

Das Ergebnis ist bekannt: Merkel wurde Parteichef­in, fünf Jahre später dann Kanzlerin – und Wolfgang Schäuble erst ihr Innen- und dann ihr Finanzmini­ster. Umso mehr enttäuscht­e ihn zuletzt die Art, wie sie nun agiert: Dass sie nach ihrem Rückzug aus der Politik so wenig Verbundenh­eit mit ihrer Partei zeige und demonstrat­iv sogar das Gegenteil vermittle, habe ihn irritiert. „Dass sie dabei sogar treue politische Gefährten meidet, tut fast schon weh.“

Trotzdem ist das Buch keine Abrechnung mit Angela Merkel. Im Gegenteil. Ihr alleine vertraut Schäuble schon 2006 an, dass die Ärzte bei ihm Krebs diagnostiz­iert haben. Mit ihr geht er 2012 kurzentsch­lossen ins Kino, um sich den Film „Ziemlich beste Freunde“anzusehen, eine Tragikomöd­ie um einen Querschnit­tsgelähmte­n. Ihr attestiert er, als Generalsek­retärin ein Glücksfall gewesen zu sein. „Ich wusste, dass sie klug, umsichtig und ehrgeizig genug war, ihren eigenen Weg zu gehen.“

Die These, sein einstiger Mentor Kohl habe ihn um die Kanzlersch­aft gebracht, weil er 1998 in aussichtsl­oser Lage noch einmal antrat, bestreitet Schäuble. Ja, Kohl habe ihn immer wieder darin bestärkt, dass er sein Nachfolger werden solle und Franz Josef Strauß ihn sogar als „Kohls letzte Patrone“beschriebe­n. „Aber ich wusste um seine Launen und seine Art.“Für ihn sei klar gewesen, dass sich Kohls Regierungs­zeit nur durch eine verlorene Wahl beenden ließe. Außerdem habe er keine Lust gehabt, der Prinz Charles der Politik zu werden, der ewige Kronprinz. Zugetraut, das weiß man, hätte Schäuble es sich sehr wohl.

Das Attentat vom 12. Oktober 1990, das ihn in den Rollstuhl zwingt, arbeitet er vergleichs­weise kurz und sachlich auf. Christine, seine älteste Tochter, ist damals

Geschockte Tochter: „Ich glaube, der Papa ist tot.“

mit im Saal und ruft verzweifel­t zu Hause an: „Ich glaube, der Papa ist tot.“Schwer getroffen von drei Schüssen eines Mannes, den Schäuble als wahnhaft beschreibt. Rachegefüh­le gegenüber dem Attentäter, dem Sohn eines Bürgermeis­ters aus seinem Wahlkreis, habe er aber nie gehegt. „Er war krank.“Schäubles Erinnerung setzt erst fünf Tage nach dem Anschlag wieder ein, „als ich verbunden, verkabelt und den Körper voller Sonden, Infusionen und Katheter aus dem Koma erwachte.“Zu seiner eigenen Überraschu­ng aber sei er stärker im Nehmen gewesen als gedacht.

Otto Graf Lambsdorff, der frühere Wirtschaft­sminister, der im Krieg ein Bein verloren hatte, hat ihn einmal gefragt, ob er in seinen Träumen eigentlich aufrecht gehe oder ob er da auch im Rollstuhl säße. Er selbst, so Lambsdorff, sehe sich noch mit zwei Beinen: Schäuble ging es ähnlich: Im Traum war er noch Fußgänger.

> Wolfgang Schäuble: Erinnerung­en – Mein Leben in der Politik. Verlag Klett-Cotta, 656 Seiten, 38 Euro.

 ?? Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa ?? Der damalige Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble vor seinem Büro im Deutschen Bundestag. An diesem Montag erscheinen seine Memoiren.
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Der damalige Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble vor seinem Büro im Deutschen Bundestag. An diesem Montag erscheinen seine Memoiren.

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