Neu-Ulmer Zeitung

Der Klang der Revolution

Gegen das Aufgeblase­ne, Pompöse und Steife: Vor 50 Jahren erfanden die Ramones in New York den Punk. Schnell schwappte die Jugendkult­ur auch nach London. Rockhelden erinnern sich.

- Von Olaf Neumann

London Dass der Punk seinen Weg nach London fand, das hat viel mit Malcolm McLaren zu tun. Der umtriebige britische Modedesign­er und Musiker übernahm 1974 in den USA das Management der Proto-Punkband New York Dolls und kehrte im Mai 1975 nach London zurück. Mit Vivienne Westwood eröffnete er dort die Boutique SEX, die den radikalen Punk-Kleidungss­til prägte. Außerdem begann McLaren, die Gruppe The Swankers zu managen – aus der die Sex Pistols hervorgehe­n sollten. Und so wurde die Londoner Szene zum Inbegriff der neuen rebellisch­en Jugendkult­ur.

Steve Jones von den Sex Pistols, heute 68, erinnert sich an diese Zeit vor 50 Jahren: „Ich, Glen (Matlock), Paul (Cook) und dieser Typ namens Wally (Nightingal­e) spielten eine Show, und ich merkte, dass das Singen nichts für mich ist. Ich hatte nicht das Zeug zum Frontmann. Malcolm erkannte das und meinte, ich solle lieber die Gitarre übernehmen und Wally loswerden. Und dann luden wir Leute zum Vorsingen ein. So fanden wir John (Lydon), mit ihm waren die Sex Pistols komplett. Damals gab es so etwas wie Punk noch nicht. Der Begriff kam erst später auf. Aber John sah einfach einzigarti­g aus. Er war ein Star, er hatte etwas Besonderes. Ein sehr intelligen­ter Typ mit einem kreativen Geist, der großartige Texte schrieb. Damals war er einfach der Beste.“

Mit seiner Ästhetik der Hässlichke­it inklusive Sicherheit­snadeln in der Wange avancierte der damals 19-jährige John Lydon, alias Johnny Rotten, zur Ikone einer Gegenkultu­r. Die Songs der Sex Pistols waren Manifeste gegen Kommerz, Bürgerlich­keit und „langweilig­e alte Fürze“. Sie verzichtet­en auf Virtuositä­t. 1976 trat diese lebendig gewordene Provokatio­n in der populären Bill Grundy Show live im BBC-Fernsehen auf. Und plötzlich rutschte es Steve Jones heraus: „You dirty fucker!“Dieser spontane, an den konservati­ven Moderator Grundy gerichtete Spruch sollte für die Sex Pistols alles verändern.

„Es war eine verrückte Sache, die einfach passiert ist“, erzählt Jones. „Ich hatte zuvor ein paar Gläser Wein getrunken, was wahrschein­lich ein bisschen geholfen hat. Aber Bill Grundy war wirklich ein Arsch. Vieles davon war großartige Werbung für die Band, aber ich glaube, es war auch der Anfang vom Ende. Denn danach wurde es nur noch ein Zirkus. Glen verließ die Sex Pistols und für ihn bekamen wir Sid (Vicious), der überhaupt nicht spielen konnte. Für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis wir implodiere­n würden. Genau das ist später ja passiert.“

Rockmusik mit Punk-Merkmalen gab es schon ab den späten 60ern von Bands wie The Velvet Undergroun­d, Iggy Pop & The Stooges oder The New York Dolls.

Der Bassist Tony James, 71, war 1975 Mitgründer der Proto-PunkFormat­ion London SS. Gemanagt wurde diese laute, energiegel­adene Band von Malcolm McLaren und Bernie Rhodes. „Sie haben mir die Augen geöffnet“, sagt Tony James heute. „Bernie Rhodes gab mir eine Leseliste mit Büchern von JeanPaul Sartre oder empfahl mir die Kunst von Jasper Johns. Er meinte: Solange ihr nichts Originelle­s zu sagen habt, habt ihr überhaupt nichts zu sagen.“

Der Teenager Tony James verdiente sich Geld mit Babysittin­g für Neil Aspinall, dem Roadmanage­r

der Beatles. Tony saß auf einem Sofa mit George Harrison und wurde von dem Beatle ermutigt, auch Musik zu machen. In der Nacht, in der die Bill Grundy Show mit den Sex Pistols ausgestrah­lt wurde, war James bei Aspinall. „Wir fanden es wundervoll, dass die Sex Pistols mit Respektlos­igkeit gegenüber dieser geradlinig­en Fernsehsen­dung auftraten“, sagt Tony James, der heute mit Steve Jones und Billy Idol die Punkband Generation Sex betreibt.

Der Bill-Grundy-Skandal war der Moment, in dem die Untergrund­bewegung Punk in die Boulevardm­edien eindrang und in Großbritan­nien zum Staatsfein­d Nummer eins erklärt wurde. Für Malcolm McLaren war das ein Traum, aber für die beteiligte­n Bands fast ein Rückschrit­t, weil sie es jetzt mit etablierte­n, populistis­chen Medien zu tun hatten. Anderersei­ts machte es den Punk noch spannender.

Noch vor den Sex Pistols initiierte McLaren 1974 The Masters of the Backside. „Malcolm hat uns für ein paar Wochen gemanagt“, erinnert sich das Bandmitgli­ed Captain Sensible, 70, der bis heute mit der Band The Damed aktiv ist. London war damals der Schmelztie­gel für eine kleine Szene, die die aktuelle Musikszene hasste, also den Stadionroc­k à la Genesis oder Yes.

The Masters of the Backside wollten etwas Neues machen, für normale Leute, mit verständli­chen Texten. „Wir wollten keine Songs über Kobolde und Zauberer und diesen ganzen Müll. Es gab zu der Zeit in London eine kleine Gruppe von vielleicht 100 Leuten, die probierten, miteinande­r Musik zu machen. Es gab viele verschiede­ne Ideen für Bands, die sich schließlic­h zu The Damned, The Clash, den Sex Pistols, den Stranglers und The Banshees verdichtet­en.“

Als Szenetreff­punkte dienten der 100 Club in der Oxford Street und der Roxy Club in Covent Garden. Dort sah der R&B-Sänger Charlie Harper 1977 The Damned live und war so begeistert, dass er die UK Subs gründete, mit denen er ebenfalls Punk machen wollte. Der Veteran erinnert sich: „In den Straßen von London lagen damals Berge von Müll. Es wurde gestreikt. Wir Punks sind durch die Stadt gelaufen und haben die Müllhaufen einfach in Brand gesetzt. Das hat funktionie­rt, denn kurz darauf wurden sie entfernt.“

Ihn fasziniert­en Punksongs, die bis aufs Skelett reduziert waren. „Die Gitarre ließen wir immer sehr natürlich klingen, wir benutzten beim Spielen keinerlei Effektgerä­te“, so erklärt er den Sound der UK Subs. „Heutzutage klingen fast alle Gitarriste­n gleich.“

2024 feiert Charlie Harper seinen 80. Geburtstag und ist damit wohl der dienstälte­ste Punkshoute­r der Welt. Auf der diesjährig­en Deutschlan­dtour der UK Subs will er beweisen, dass eine Jugendkult­ur in die Jahre kommen und trotzdem ihren Biss bewahren kann.

Auf dem Sofa mit George Harrison

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Foto: UPI/dpa Die Punkband Sex Pistols schockiert­e in den 70er-Jahren England.

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