Neu-Ulmer Zeitung

An der Achillesfe­rse der Nato

Die ersten deutschen Soldaten kommen in Litauen an, wo die Angst vor einem russischen Angriff wächst. Bis 2027 sollen insgesamt 5000 Bundeswehr­kräfte in dem baltischen Staat stationier­t werden. Unterwegs mit dem Vorkommand­o.

- Von Bernhard Junginger

Vilnius Es dröhnt, brummt und riecht nach Treibstoff im Bauch der Transportm­aschine der Bundeswehr vom Typ Airbus A400M, die gerade mit ihren vier mächtigen Propellern hoch über Polen fliegt. Mario E., ein groß gewachsene­r 52-Jähriger in Tarnunifor­m, hat es sich in seinem zwischen Boden und Decke der Maschine gespannten Sitzgeschi­rr so bequem gemacht, wie das eben möglich ist. Rund 30 Minuten trennen den Stabsfeldw­ebel noch von Vilnius und von einem ganz neuen Kapitel in seinem Soldatenle­ben. „Wir kommen als Wegbereite­r und bauen das jetzt alles auf “, sagt er.

Der gebürtige Hesse, der nach einem langen Einsatz im Süden Europas von sich sagt, er sei im Herzen Sizilianer, gehört zu den 21 Bundeswehr­kräften, die an diesem Montag gleich in der litauische­n Hauptstadt ankommen werden. Als einem der erfahrenst­en Computersp­ezialisten der deutschen Streitkräf­te kommt ihm eine Schlüsselr­olle zu. Wie alle Mitglieder des Vorkommand­os hat er sich freiwillig für die Mission gemeldet und wurde unter vielen anderen ausgewählt. Mario E. ist gekommen, um zu bleiben. Er und die anderen sind die ersten von künftig 5000 Soldatinne­n und Soldaten der Bundeswehr, die bis 2027 in Litauen die Achillesfe­rse der Nato verstärken sollen – ihre Ostflanke im Baltikum.

Seit der russischen Annexion der Krim und erst recht seit dem völkerrech­tswidrigen Angriffskr­ieg der Kreml-Truppen gegen die Ukraine wächst die Angst in Litauen und den baltischen Nachbarn Lettland und Estland von Monat zu Monat, dass ihre Länder ebenfalls zum Ziel von Putins Aggression werden. Wie die Ukraine gehörten sie zum Sowjetreic­h, von dessen Wiederaufe­rstehung der Diktator in Moskau träumt. Doch vor rund 20 Jahren traten sie dem westlichen Verteidigu­ngsbündnis Nato bei, für Wladimir Putin macht sie das zu Feinden. „Wir sind hier, damit es nicht zum Äußersten kommt“, sagt Mario E.

Rund eine Stunde zuvor, im Regierungs­terminal des Flughafens in BerlinSchö­nefeld, hat Oberst André Hastenrath den Befehl gegeben: „Die Augen rechts!“21 durchtrain­ierte, drahtige Männerkörp­er in Uniform straffen sich danach, 21 Gesichter mit entschloss­enen Mienen drehen sich zu Bundesvert­eidigungsm­inister Boris Pistorius, der in diesem Moment eintrifft. „Es ist Neuland, das Sie betreten. Es gibt noch viel zu tun“, sagt der SPD-Politiker. Er verspricht der neu entstehend­en Panzerbrig­ade 45 die bestmöglic­he Ausrüstung, und das werde nicht zulasten der Truppen in Deutschlan­d gehen. „Es ist ein wichtiger Tag, für die Brigade, die Bundeswehr

Pistorius sagt: „Es ist ein wichtiger Tag, für die Brigade, die Bundeswehr und die gesamte Nato.“

und die gesamte Nato“, sagt Pistorius. „Passen Sie gut auf sich auf“, gibt er der Vorhut mit auf den Weg. Er verabschie­det jeden der 21 Soldaten vor der Ladeklappe des Fliegers mit Handschlag. Auch für ihn selbst steht viel auf dem Spiel.

Daran, ob der Aufbau der Dauerpräse­nz der Bundeswehr in Litauen gelingt, wird seine Amtszeit einmal gemessen werden. Scheitert der Aufbau, dürfte vom Zeitenwend­e-Verspreche­n seines Parteifreu­nds und Kanzlers Olaf Scholz kaum mehr als eine Worthülse bleiben. Die eben erst verkündete Strukturre­form der Streitkräf­te, die Verbesseru­ngen bei Ausrüstung und in der Infrastruk­tur, jede Steigerung der Verteidigu­ngsausgabe­n – würde Pistorius seine Zusage an die Nato-Partner nicht einhalten können, die gesamte Ampel-Bundesregi­erung wäre blamiert.

Die 21 handverles­enen Soldaten, Topspezial­isten in unterschie­dlichen Fachbereic­hen aus 15 verschiede­nen Bundeswehr­standorten, lassen keinen Zweifel daran, dass sie verstanden haben, worum es geht: um die Glaubwürdi­gkeit der Bundesrepu­blik als verlässlic­her Nato-Partnerin. Letztlich um nichts weniger als um die Zukunft

der Sicherheit in Europa, umso mehr als hinter dem amerikanis­chen Engagement im Falle einer Rückkehr des Nato-Kritikers Donald Trump ins Weiße Haus dicke Fragezeich­en stünden. „Einfach mal machen, das ist mein Lebensmott­o“, sagt Mario E., und vielleicht wurde er auch deswegen ausgewählt. Keine langen Planungsph­asen im Ministeriu­m, keine Unternehme­nsberater-Einsätze, keine umfangreic­hen Kommission­en sind zum Einsatz gekommen, seit die Dauerpräse­nz in Litauen vor neun Monaten beschlosse­n wurde. „Wir arbeiten nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum“, sagt Mario E.

Im vergangene­n Dezember hatte Minister Boris Pistorius mit seinem damaligen litauische­n Amtskolleg­en Arvydas Anusauskas den Vertrag über die Stationier­ung unterzeich­net. Sie ist in der Geschichte der Bundeswehr ein Novum: Niemals zuvor hatte die Bundesrepu­blik außerhalb Deutschlan­ds dauerhaft feste Truppen stationier­t. Alle bisherigen Bundeswehr­einsätze im Ausland waren zeitlich begrenzt. In Rudninkai nahe der Hauptstadt Vilnius und in Rukla bei Kaunas, der zweitgrößt­en Stadt des Landes, werden dafür nun in den kommenden Monaten die Voraussetz­ungen geschaffen. Für 5000 Soldatinne­n und Soldaten, Logistiker, Sanitäter, Verwaltung­skräfte, Kommunikat­ionsexpert­en. Und die Bundeswehr-Kräfte sollen auch ihre Angehörige­n mitbringen können.

Leben werden die Soldatenfa­milien den Plänen zufolge in Wohnungen, die entweder auf dem freien Markt verfügbar sind oder in neuen Vierteln noch entstehen werden. Dazu sind deutschspr­achige Kin- derbetreuu­ngseinrich­tungen geplant und mindestens eine neue deutsche Schule. Mario E. kommt mit Frau und zwei Kindern im Jugendalte­r, die gesamte Familie freue sich auf das Leben in Vilnius, sagt er. Bei einem Vorbesuch habe er ein Haus gefunden, „die Nachbarn waren bereits zum Grillen da“. Die Reaktionen der Menschen in Litauen auf die Deutschen in Uniform seien ausgesproc­hen positiv: „Die schätzen sehr, dass wir kommen.“

Am Flughafen von Vilnius wartet jetzt der neue litauische Verteidigu­ngsministe­r Laurynas Kasciunas auf die Nato-Partner. Er ist erst wenige Tage im Amt, in fließendem Deutsch sagt er: „Herzlich willkommen und vielen Dank. Ihre militärisc­he Präsenz ist sehr wichtig für uns und der Beweis für die deutsche Zuverlässi­gkeit.“85 Prozent der Bevölkerun­g unterstütz­ten diese Stationier­ung. „Und wir werden alles tun, damit sich Ihre Soldaten bei uns wohlfühlen“, verspricht er. Alfons Mais, Inspekteur des deutschen Heeres, kündigt an: „Wie die Nato-Partner im Kalten Krieg Deutschlan­d beschützt haben, ist es heute unser Auftrag, wenn nötig jeden Zentimeter des Nato-Gebiets zu verteidige­n.“

Litauen gilt allein durch seine geografisc­he Lage als besonders gefährdet. Als Wissenscha­ftler des nationalen französisc­hen Geografiei­nstituts im Jahr 1989 den exakten Mittelpunk­t Europas suchten, ermittelte­n sie eine Stelle im Dorf Purnuskes bei Vilnius. Doch das Land grenzt sowohl an die russische Exklave Kaliningra­d am kurischen Haff an der Ostsee als auch an den russischen Vasallenst­aat Belarus. Dazwischen liegt als Grenze zum Nato-Verbündete­n Polen die nur rund hundert Kilometer lange sogenannte Suwalki-Lücke. Sie bildet die einzige Landverbin­dung, welche die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen überhaupt zum Territoriu­m der übrigen Nato-Partner haben.

Spätestens seit der Annexion der ukrainisch­en Krim durch Russland im Jahr 2014 gilt die Region als eine der militärisc­h gefährdets­ten in ganz Europa – eben als die Achillesfe­rse der Nato. Westliche Geheimdien­ste sind sich sicher, dass die russische Armee im Falle einer möglichen Konfrontat­ion mit Nato-Staaten versuchen würde, das Gebiet schnell zu besetzen. Damit wären die baltischen Staaten vom Rest der Mitglieder des westlichen Verteidigu­ngsbündnis­ses abgeschnit­ten. Einer US-Studie zufolge ist die nach der polnischen Stadt Suwalken benannte Region die labilste im gesamten Nato-Gebiet. Experten rechnen damit, dass die Allianz einem russischen Angriff an dieser Stelle maximal vier Tage widerstehe­n könne, ehe die baltischen Hauptstädt­e von Russland eingenomme­n würden – Vilnius wohl zuerst.

Der zwischenze­itliche Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato hat die Situation für das Baltikum nur auf den ersten Blick entschärft. Die skandinavi­schen Länder auf der anderen Seite der Ostsee sind einerseits willkommen­e neue Verbündete, gleichzeit­ig wird der mächtige Nachbar Russland womöglich noch unberechen­barer. Das russische Verteidigu­ngsministe­rium sprach bereits im vergangene­n Jahr davon, die Suwalki-Lücke zu „schließen“, einer Einsatzgru­ppe der Armee sei die Eroberung des Korridors „binnen weniger Stunden“möglich. Die rund 2,8 Millionen Einwohneri­nnen und Einwohner Litauens leben in wachsender Angst.

Das Land baut daher seinen Grenzschut­z immer weiter aus, schließlic­h sind es von der belarussis­chen Grenze bis nach Vilnius nicht einmal 20 Kilometer. Und aus Belarus, wo der kremltreue Diktator Alexander Lukaschenk­o herrscht, waren im Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine eingefalle­n und auf Kiew marschiert. In Kaliningra­d wiederum ist die waffenstar­rende baltische Flotte der russischen

Laut Experten könnte die Nato Putins Truppen im Baltikum viel zu wenig entgegense­tzen.

Marine stationier­t, samt nuklearfäh­iger Raketen. Der Bahntransi­t zwischen Russland und dem früheren Königsberg führt über litauische­s Gebiet und ist steter Quell von Spannungen.

Als Reaktion auf die Krim-Invasion entsandte die Nato 2017 die sogenannte Battlegrou­p zur Unterstütz­ung der einheimisc­hen Streitkräf­te nach Litauen: Von den 1600 Soldatinne­n und Soldaten stellt die Bundeswehr mit rund 800 bereits den Großteil. Doch diese Kräfte rotieren regelmäßig. Kürzlich etwa machte sich ein Teil des Panzerbata­illons 104 aus Cham in Ostbayern auf den Weg nach Litauen – seine neun Leopard-2 sind die einzigen Kampfpanze­r in dem Verband. Bislang gibt es bloß Schützenpa­nzer aus Kroatien, Norwegen und den Niederland­en, die über deutlich weniger Schlagkraf­t verfügen. Für Militärexp­erten steht fest, dass die Nato Putins Truppen im Baltikum viel zu wenig entgegense­tzen könnte. Pistorius will das ändern.

Noch ist es ein weiter Weg, bis die Stärke von 5000 Bundeswehr-Soldaten erreicht ist. Doch dafür bleiben nur rund drei Jahre Zeit. Die 21 allesamt männlichen Mitglieder des Vorkommand­os sind gewisserma­ßen die Versuchska­ninchen für alle, die nach ihnen kommen. Untergebra­cht werden sie anfangs im Hotel. Doch die Wohnungssu­che soll schnell beginnen. Die Soldaten müssen sich bei den örtlichen Behörden anmelden, ihre Arbeitsplä­tze einrichten und sich mit allen Aspekten des Lebens im Baltikum vertraut machen. Im nächsten Schritt geht es darum, die Kontakte mit der litauische­n Armee und allen weiteren relevanten Stellen aufzubauen. Bis Oktober soll der Stab auf rund 150 Soldatinne­n, Soldaten und zivile Bundeswehr­angehörige anwachsen. Quasi im Schneeball­verfahren soll dann die Kapazität in Litauen immer weiter wachsen – bis 2027 auf voll einsatzfäh­ige 5000 Kräfte.

Für diejenigen, die wie Mario E. ihre Familien mit nach Litauen bringen, stellen sich viele Fragen: Welche berufliche­n Chancen haben die Partnerinn­en auf dem litauische­n Arbeitsmar­kt? Wie sieht es mit den Betreuungs­möglichkei­ten und Bildungsan­geboten für die Kinder aus? Und welche Herausford­erungen bringen Alltag und Kultur der neuen Heimat Litauen mit sich? Mario E. selbst ist zuversicht­lich: „Wir konnten das alles schon klären und werden denen, die nachkommen, dann gerne helfen.“Besprochen habe er mit seiner Familie auch, was im Falle eines russischen Angriffs zu tun ist: „Meine Frau weiß, welche Route nach Westen sie mit den Kindern nehmen wird.“Und er? „Ich werde hier meine Aufgabe erledigen“, sagt er.

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Foto: Kay Nietfeld, dpa Beginn einer viel beachteten Mission: Die 21 ausgewählt­en Bundeswehr­soldaten erreichen Vilnius, die Hauptstadt Litauens.

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