Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (7)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Bene hingegen nutzte jede Gelegenheit, den anderen in die Karten zu sehen (ein unauffälliger Gang zur Spüle, ein vorgetäuschter Hustenanfall), und brachte damit Florentine und sich auf den vordersten Punktestand, was Hannes ob der unlauteren Mittel ärgerte, Florentine hingegen, die sich nicht viel aus Gewinnen machte, amüsierte.
Bene stellte wieder Frieden her, indem er Hannes eine Kassette mit dem letzten Album der Beatles schenkte, es war in doppeltem Sinn das letzte, die Band hatte sich inzwischen aufgelöst. Hannes nahm die Kassettenhülle entgegen, sprachlos, ungläubig, auf der handschriftlich der Bandname aufgemalt war, mitsamt hohem ,B‘ und tief reichendem ,t‘. Die Sache war nur: Er besaß keinen Kassettenrecorder.
Florentine holte eingekochten Tomatensaft aus der Speisekammer und mixte ihn mit Wodka. „Auf alte Zeiten“, sagte sie.
„Auf die Liebe“, sagte Bene.
Die Liebe war besser als die alten Zeiten, dachte sie, als sie morgens mit schwerem Kopf und trockenem Mund aufgewacht war.
Sicher würde es Gerede im Dorf geben, weil das Licht im Pfarrhaus wieder so lange gebrannt hatte. Die Leute fanden immer etwas, das sie kommentieren konnten. Zuerst echauffierten sie sich über Hannes’ Bart. Als er ihn abrasierte, hatten sie sich plötzlich „an ihn gewöhnt“. Überall wurde sein nacktes Gesicht moniert, zu Fisch und Eiern geraten, das sei gesund und fördere den Haarwuchs. Das erneute Wachstum des Bartes war eine öffentliche und bald beschlossene Sache.
Jesus’ bartlose Erscheinung in Michelangelos Jüngstem Gericht konnte nicht mehr Aufsehen erregt, mehr Kritik geerntet haben. Hannes fügte sich. Florentine fügte sich weniger. Sie hielt an ihrer Unabhängigkeit fest. Die Zeiten waren zum Glück vorbei, in denen sie am Zustand der Hühner, die jeder Haushalt dem Pfarrer zu entrichten hatte, die Statistik ihrer Beliebtheit ablesen konnte.
Lange hatte sie sich eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit eingeredet. Irgendwann, dachte sie, wäre sie unbemerkt vom Rand in die Mitte vorgedrungen. Sie würde sonntags in die Kirche gehen und an allen anderen Feiertagen. Kuchen backen und Hühner schlachten, die noch immer die Glöcknerin für sie köpfen musste, weil sie es nicht über sich brachte. Sie würde mit Samuel Besuche machen, statt mit ihm unterm Pfirsichbaum zu liegen oder über die Felder zu spazieren. Doch wie leicht täuschte man sich, weil das, was man glaubte und wünschte, unterdessen längst zu etwas anderem geworden war.
Es gab keine Mitte für sie, keine Zugehörigkeit, und sie fürchtete, dass sie ihr Kind zum Verbündeten gemacht hatte. Etwas würde für alle Zeit hierher zurückkommen, oder ging von hier aus – die Richtung ließ sich nicht bestimmen. Der Grad des Glücks wurde hier festgelegt, der Grad der Freiheit, die notwendig war, doch jedes Dahinterfallen (das unvermeidlich war) würde Samuel feststellen müssen.
An was würde er sich erinnern? Das kühle Blech der Schubkarre, in das sie ihn setzte, wenn sie im Garten zu tun hatte. Den Geschmack der Nova-Trauben, deren harte Schalen er in ihre Hand spuckte. Den Geruch des Geißblatts an der rückseitigen Hausmauer. Den Korridor mit den zugigen Fenstern, die
Küche mit der Speisekammer, aus der sie regelmäßig Mäuse verjagten. An die Nachmittage bei Nachbarn, wo ihn jeder verwöhnte, die ihm zugemutete Disziplin in der Kirche. An die Gäste, die von Juni bis September im Pfarrhaus übernachteten, den Zungenschlag der Rumänen und Slowaken, ihr Hochdeutsch oder den Banater Dialekt – vielleicht aber wären es ganz andere Dinge, die sie nicht bemerkte, nicht sehen konnte.
Florentine saß auf den Treppen, kühlte mit einem Glas Wasser ihre Stirn und spürte ein Vorgefühl des Abschieds. Vielleicht war es auch nur Müdigkeit. Sie sah auf die Weinreben, die weiß gekalkten Blätter, auf die Pfirsich- und Quittenbäume, und stellte erneut fest, dass etwas Zuflucht nahm zwischen den Dingen. Ihr kam der Gedanke, dass es etwas war, das der Herbst mit sich brachte und verstecken musste, damit es zum Frühling wieder auffindbar war. Vielleicht die Farben, die bald verschwinden würden, oder das Licht, mitsamt der Wärme, die sie in den Sommermonaten umfasst hatten wie eine Umarmung.
Dann entdeckte sie Bene am Brunnen. Er wähnte sich alleine, streifte Shirt und Unterhose ab. Florentine wusste nicht, ob sie der Anblick beschämte oder erregte. Er hatte einen kleinen Hintern, weiß und fest, über den sich ein anderer, dunklerer Hautton schob. Lothar streichelte Bene, es war kaum mehr als eine zufällige Berührung, aus der eine größere Zärtlichkeit wurde, die Schultern, Rücken und Arme umfasste, bis sich Bene langsam, jetzt erst, umwandte, ihn zu küssen.
Lothar zog den Eimer Wasser hinauf. Sie spritzten einander an, duckten sich weg, wandten sich mit zurückgehaltener Kraft gegeneinander. Bene lachte. Sein Gesicht trug einen Ausdruck von so ungeschütztem Ausgeliefertsein, dass er kaum von Schmerz zu unterscheiden war.
Florentine wollte aufstehen und tat es nicht. 8. Fortsetzung folgt