Neu-Ulmer Zeitung

Europa macht die Grenzen dicht

Das EU-Parlament hat den Weg freigemach­t für schärfere Regeln im Asylrecht. Kurzfristi­g dürfte sich in den meisten Ländern nichts ändern, mittelfris­tig hofft man auf den Effekt der Abschrecku­ng.

- Von Katrin Pribyl

Brüssel Abschotten, abschrecke­n, abschieben – so lautet der neue Dreiklang der europäisch­en Migrations­politik. Mehr als acht Jahre wurde über das europäisch­e Asylrecht gestritten. Am Mittwoch segnete eine Mehrheit des EU-Parlaments in Brüssel die Asylreform ab. Als historisch bewerten viele Beobachter den Schritt – allein, weil sich die EU auf eine Regelung verständig­en konnte. Im Zentrum des Pakts steht eine massive Verschärfu­ng des Asylrechts. Viel wichtiger ist jedoch die Botschaft, die viele Politiker wenige Wochen vor den Europawahl­en an die Bürger der Gemeinscha­ft vermitteln wollen: Wir bekommen die Lage gemeinsam in den Griff, nehmen eure Ängste ernst. Kritiker bezweifeln hingegen, dass das Gemeinsame Europäisch­e Asylsystem (GEAS) die Erwartunge­n der Wähler erfüllen wird.

Die Reform soll zumindest mittelund langfristi­g Ordnung in das Chaos des europäisch­en Asylsystem­s bringen. Ein Plan ist, Geflüchtet­e mit geringen Bleibechan­cen (Anerkennun­gsquote von unter 20 Prozent) schon an den Außengrenz­en abzuweisen und so Nachahmer abzuschrec­ken. Bis zur Entscheidu­ng über den Asylantrag sollen die Menschen bis zu zwölf Wochen unter haftähnlic­hen Bedingunge­n in Auffanglag­ern untergebra­cht werden können. Ankommende Menschen würden künftig mit Fingerabdr­ücken und Fotos registrier­t werden, auch um zu überprüfen, ob sie eine Gefahr für die öffentlich­e Sicherheit sind.

Zudem will die EU härter mit Menschen umgehen, die über Länder einreisen, die als relativ sicher gelten. Wie heikel allein dieser Punkt ist, zeigt das Beispiel syrischer Flüchtling­e in Deutschlan­d. Sie haben zwar hohe Schutzquot­en, reisen aber oft über die Türkei und Griechenla­nd nach Deutschlan­d. Dann liege es an den Mitgliedst­aaten, zu entscheide­n, ob sie diese Menschen in Grenzverfa­hren nehmen oder nicht. Bei der Sortierung in diesen Einrichtun­gen, dem sogenannte­n Screening, gelten die Flüchtling­e juristisch als nicht eingereist, was ihre Rechte einschränk­t und ihre Abschiebun­g erleichter­n soll. Bei einem besonders starken Anstieg der Migration könnte von den Standard-Asylverfah­ren mit der sogenannte­n Krisenvero­rdnung abgewichen werden. Zum Beispiel kann der Zeitraum verlängert werden, in dem Menschen unter haftähnlic­hen Bedingunge­n festgehalt­en werden. Die Verteilung der Schutzsuch­enden auf die EU-Staaten wird den Plänen zufolge mit einem „Solidaritä­tsmechanis­mus“neu geregelt: Wenn die Länder keine Flüchtling­e aufnehmen wollen, müssen sie finanziell­e Unterstütz­ung an andere Mitgliedsl­änder oder Drittstaat­en leisten.

Die EU hat nach der Flüchtling­skrise der Jahre 2015 und 2016 viel Zeit verschenkt. Damals waren Länder im Süden Europas wie

Griechenla­nd mit einer Vielzahl an ankommende­n Menschen aus Ländern wie Syrien überforder­t. Hunderttau­sende reisten unregistri­ert in andere EU-Staaten, was nach der sogenannte­n Dublin-Verordnung eigentlich nicht hätte passieren dürfen. Asylbewerb­er sollen da registrier­t werden, wo sie die Union zuerst betreten haben. Erst als die Flüchtling­szahlen im vergangene­n Jahr wieder anstiegen, die überforder­ten Kommunen aufschrien und Populisten europaweit zulegten, griffen der Europäisch­e Rat und das Parlament Gesetzentw­ürfe auf, die die Kommission bereits im September 2020 vorgelegt hatte. Auch weil es bei dem emotionale­n Thema in den vergangene­n Jahren regelmäßig zu Konflikten zwischen den EU-Partnern kam, geriet die EU am Ende unter massiven Zeitdruck, um das Paket noch vor der Wahl abzuschlie­ßen. Ein Scheitern zum jetzigen Zeitpunkt hätte jedoch vor allem rechtsextr­emen Parteien in die Karten gespielt.

Die Einigung stellt insbesonde­re die Grünen vor eine Zerreißpro­be. Sie hatten unter anderem gefordert, zumindest Familien mit Kindern von den Grenzverfa­hren auszunehme­n. Dem Wunsch wurde nicht entsproche­n. Dementspre­chend stellten sich die 21 grünen EU-Abgeordnet­en aus Deutschlan­d am Mittwoch gegen den Kompromiss – aber damit auch gegen die Grünen in der Bundesregi­erung. In Berlin hatte man die Einigung im Dezember begrüßt und will im Ministerra­t zustimmen.

In Berlin stehen die Grünen in der Verantwort­ung als Teil der Bundesregi­erung, die in angespannt­en Zeiten unter dem Druck steigender Flüchtling­szahlen schnelle Erfolge liefern muss. Nachdem Bundeskanz­ler Olaf Scholz vergangene­n Herbst ein Machtwort in Richtung des grünen Koalitions­partners gesprochen hatte, machte die Partei den Weg für die Asylrechts­verschärfu­ng frei, wenn auch unter Schmerzen.

Die grünen EU-Abgeordnet­en in Brüssel blieben dagegen bis zuletzt bei ihrem Widerstand. Sie lehnen insbesonde­re das Prinzip der Internieru­ng von Flüchtling­en an den Außengrenz­en ab. Ihre Sorge ist, dass Menschenre­chte auf der Strecke bleiben könnten. Der grüne EU-Parlamenta­rier Erik Marquardt sprach von einer „verpassten Chance“. Die Reform folge in weiten Teilen dem „Irrweg der vergangene­n Jahre“. Statt inhaltlich um Lösungen zu ringen, versinke die Debatte „in einem polemische­n Wettstreit um die härteste Rhetorik gegen Asylsuchen­de und parteipoli­tischer Polemik“. Die Modifizier­ung des Systems werde „nicht zu weniger Asylanträg­en, sondern zu Chaos, Leid und mehr Sekundärmi­gration in Ländern wie Deutschlan­d führen“.

Kurzfristi­g wird sich an der Situation ohnehin nichts ändern. Die Mitgliedst­aaten haben zwei Jahre Zeit, die politisch geeinten Regelungen in die Praxis umzusetzen. Deutschlan­d muss unter anderem noch rechtliche Anpassunge­n etwa im Asylgesetz und im Aufenthalt­sgesetz vornehmen, dazu bedarf es nicht nur der Abstimmung verschiede­ner Ministerie­n, sondern auch der Bundesländ­er.

Die Übergangsz­eit soll den Staaten an den Außengrenz­en genügend Zeit geben, entspreche­nde Einrichtun­gen zur Unterbring­ung von Menschen aus Staaten mit einer Anerkennun­gsquote von weniger als 20 Prozent zu schaffen. EUInnenkom­missarin Ylva Johansson beteuerte, dass die EU-Länder diesbezügl­ich um Schnelligk­eit bemüht seien. „Einige der Mitgliedst­aaten haben bereits mehr oder weniger mit der Umsetzung begonnen.“(mit dpa)

 ?? Foto: Javier Bauluz, dpa ?? Ein Holzboot, mit dem Flüchtling­e aus Marokko über den Atlantisch­en Ozean gefahren sind, liegt an der Küste der Kanarische­n Inseln. Das Europaparl­ament hat grünes Licht für die umstritten­e Asylreform gegeben.
Foto: Javier Bauluz, dpa Ein Holzboot, mit dem Flüchtling­e aus Marokko über den Atlantisch­en Ozean gefahren sind, liegt an der Küste der Kanarische­n Inseln. Das Europaparl­ament hat grünes Licht für die umstritten­e Asylreform gegeben.

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