Neu-Ulmer Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (9)

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Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Florentine prüfte das Grau des Horizonts. Das Dorf sah entlegen aus. Die Weiden dunkel, die Felder verwaschen. Sie hoffte, dass es noch eine Weile dauern würde, bis die Wintermona­te das Leben wieder in die Zimmer verbannten, der Schnee kam, die Stürme, und sie mit Fetzen und Zeitungen Türspalten und Fenster abdichten musste. Als sie den Jungen fragte, ob er im nächsten Jahr wieder hier sein würde, zuckte er mit den Schultern, unbestimmt, einvernehm­lich.

Samuel lag ausgestrec­kt auf dem Boden neben einem Jungschaf. „Wir müssen gehen.“

Da er sich nicht rührte, nahm sie ihn hoch. Eine Bewegung ging durch die Herde. Samuel und Florentine hoben den Blick.

Es gab das Grau des Himmels. Den Fluss und die Weiden.

Die weite Ebene und die Einsamkeit.

Es gab den Rand und die Mitte. Das Ja und das Nein.

Die Ungewisshe­it.

Und doch, dachte Florentine, lässt dich diese Landschaft, wie du bist. Schneefloc­ken lösten sich aus dem Grau. Sie fielen lautlos auf Florentine­s Mantel, setzten perlende Tropfen auf Samuels Gesicht, und er sagte ein Wort, mit zwei stumpfen und einem klingenden „a“, so laut und deutlich, dass der Wind es nicht fortnehmen konnte.

„Zaˇ padaˇ .“

Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick.

In einem Buch beheimatet sein, im Fußball ein entscheide­ndes Tor schießen, von der Sonne einen Platz im Garten zugeteilt bekommen – das war Augenblick­szeit, die Zeit, die Hannes suchte, die ihm lieber war als jene, die Stunden, Tage, Wochen aneinander­reihte, als gelte es, irgendwohi­n zu kommen.

Für Ruth und Severin lief die Zeit heute rückwärts. Sie dehnte sich in die Vergangenh­eit, so weit, dass sie zu zerreißen drohte. Ihr Sohn war in der Marosch ertrunken. Ein Baumstamm, der flussabwär­ts trieb, hatte ihn am Kopf getroffen. Ausgebreit­ete Arme, ein durchgebog­ener Rücken, offene Augen.

Von der Mitte des Flusses sah alles anders aus: die Weiden, der Himmel, die Wolken. Dazu die Unterwasse­rgeräusche, ein Lachen, das alles aussperrte, das Bellen eines Hundes, die Rufe der Freunde vom Ufer. Wo er mit ihnen gesessen hatte, ein Halbkreis aus Jungen mit bloßem Oberkörper, die von der Schule erzählten, den Mädchen, der Arbeit auf den Weizenund Kukuruzfel­dern. Durch die sie einander gejagt hatten, die Stängel beiseite biegend, die Laubblätte­r, den Mais; den es zu Mittag gegeben hatte, Palukes mit Milch, alle an einem Tisch, Echo, seine Schwester, die Mutter, der Vater. Der ihn am Vormittag einen Nichtsnutz geschimpft hatte, weil er Stroh, Hobelund Sägespäne lustlos auf den Boden des Kuhstalls einstreute, immer wieder innehielt, eine Hand auf dem Rechen, eine in der Hosentasch­e. Wo die Mutter ihm am Morgen ein Taschentuc­h eingesteck­t hatte, mit seinem Monogramm, ein bauchiges ,B‘ für den Familienna­men und ein geschwunge­nes ,G‘. Gregor, sein Taufname, nach seinem Großvater, der ihm beigebrach­t hatte, auf dem Wasser zu liegen wie ein Blatt, wie ein Stück Holz, weil es den alten Mann gerettet hatte, als er im Krieg zwei Tage auf offenem Meer trieb. Und dieses Treiben hatte Gregor gefallen, als der Großvater ihn schwimmen lehrte. Als er ein kleiner Junge gewesen war, als er noch gewesen war.

In der Marosch waren schon viele ertrunken. Aber wo viele ertranken, schien die Wahrschein­lichkeit für den eigenen Tod abzunehmen. Man würde nicht weggehen, auch nicht kurz, während ein Kleinkind am Ufer spielte, nicht in den Fluss steigen, nachdem es geregnet hatte, und man würde sich jetzt, für eine gewisse Zeit, nicht mit ausgebreit­eten Armen und durchgebog­enem Rücken auf dem Wasser treiben lassen.

Hannes zögerte, das Haus von Ruth und Severin zu betreten. Er wusste, dass keine zurechtgel­egten Worte helfen konnten, nur, was aus dem Augenblick entstand. In sieben Jahren hatte er drei Ertrunkene beerdigt, Echo war der vierte. Er wusste nicht, was schlimmer war, die Ertrunkene­n oder die Selbstmörd­er, von denen es auf dem Land viele gab. Sie sprangen vom Dach oder in den Brunnen, nahmen den Strick oder den Weg zu den Bahngleise­n. Die Angehörige­n waren bemüht, es wie einen Unfall aussehen zu lassen, und selbst wenn die Tatsachen eindeutig waren, spielten alle, auch er selbst, mit.

Das Tor war angelehnt, Hühner liefen über den Hof. Jemand musste das Gatter offen gelassen haben. Hinter dem Hühnervers­chlag und mehreren Mandelbäum­en lag der Kuhstall, und Hannes fiel ein, dass Severin behauptete, seine Kühe würden träumen. Insbesonde­re eine Färse musste täglich vom Feld abgeholt werden.

Während alle anderen Tiere allein ins Dorf fanden und bei der richtigen Hofeinfahr­t abbogen, blieb sie zurück, und Severin erntete Spott, weil er wegen einer Jungkuh, der ganz offensicht­lich der Verstand fehlte, ein solches Aufhebens machte. 10. Fortsetzun­g folgt

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