Neu-Ulmer Zeitung

„Der Staat ist verpflicht­et, Leben zu schützen“

Die Kernfrage, wann menschlich­es Leben beginnt, ist weniger eindeutig, als man meinen sollte.

- Interview: Margit Hufnagel

Herr Lob-Hüdepohl, mit dem Paragrafen 218 wurde in den 90er-Jahren ein Instrument geschaffen, um das Thema Abtreibung­en zu regeln. Ein Schwangers­chaftsabbr­uch ist seither verboten, bleibt aber unter bestimmten Bedingunge­n straffrei. Nun will die Bundesregi­erung den Kompromiss aufkündige­n und neu regeln. Ist das ein kluger Schritt?

Andreas Lob-Hüdepohl: Ich halte das nicht für klug. Denn der Kompromiss hat für eine große Befriedung innerhalb der Gesellscha­ft gesorgt. Allerdings gilt gleichzeit­ig, dass man sich immer wieder neu der Gründe versichern muss, die damals zu diesem Kompromiss geführt haben. Insofern ist eine Debatte zum jetzigen Zeitpunkt durchaus logisch.

Hat sich an den Grundlagen der Entscheidu­ng von damals etwas geändert? Lob-Hüdepohl: Damals wurde der Versuch unternomme­n, zwei fundamenta­le Rechtsgüte­r miteinande­r in Ausgleich zu bringen. Einerseits ist da das Selbstbest­immungsrec­ht der Frau und damit verbunden das Recht, über etwaige körperlich­e Belastunge­n selbst entscheide­n zu können. Das ist ein sehr hohes Rechtsgut. Zugleich gibt es das Rechtsgut

„Es geht hier um das Selbstbest­immungsrec­ht über das eigene Leben.“

des ungeborene­n Lebens. Und in diesem Punkt gibt es einen Wandel: In den 1990er-Jahren hat der Gesetzgebe­r entschiede­n, dass mit der Verschmelz­ung von Ei und Samen menschlich­es Leben beginnt und eine Entwicklun­g als Mensch erfolgt und nicht zum Menschen hin. Nur unter dieser Voraussetz­ung können wir die zwei Güter überhaupt auf einer Ebene anordnen. Die Voraussetz­ungen verändern sich aber in dem Augenblick, ab dem wir davon ausgehen würden, dass der Beginn menschlich­en Lebens später beginnt, also erst im Laufe einer Schwangers­chaft.

Gibt es in dieser Frage eine Neubewertu­ng?

Lob-Hüdepohl: Das lässt sich zumindest aus vielen Diskussion­en herauslese­n, etwa im Zusammenha­ng mit der Stammzellf­orschung oder der Forschung an Embryonen. In der fachlichen wie auch in der öffentlich­en Debatte scheint man nicht mehr vollkommen überzeugt, dass der Lebensbegi­nn eines Menschen mit der Verschmelz­ung von Ei und Samen erfolgt. Die Frage ist strittig, das muss man ganz nüchtern zur Kenntnis nehmen.

Ist die Frage denn wissenscha­ftlich so uneindeuti­g?

Lob-Hüdepohl: Wenn die Frage eindeutig zu beantworte­n wäre, wären wir einen bedeutende­n Schritt weiter. Schauen Sie auf die Kinderrech­tskonventi­on der Vereinten Nationen. Hier drehte sich eine der großen Debatten darum, wann menschlich­es Leben beginnt. Letztlich wurde die Frage ausgeklamm­ert, weil es in der internatio­nalen Gemeinscha­ft keinen Konsens darüber gab. Selbst in den Religionsg­emeinschaf­ten war dieser Punkt in der Vergangenh­eit immer wieder umstritten. Im Christentu­m gab es lange den Gedanken der „Sukzessiv-Beseelung“– man ging davon aus, dass es beim männlichen Embryo 30 Tage und bei einem weiblichen Embryo 60 Tage dauert, bis die Seele eingehauch­t wird und damit das Leben beginnt.

Würde sich durch eine Abschaffun­g des Paragrafen 218 in der Praxis überhaupt so viel ändern? Immerhin sind Abtreibung­en ohnehin straffrei …

Lob-Hüdepohl: Es gibt mindestens zwei Gründe, weshalb das einen Unterschie­d macht. Zum einen signalisie­rt die Rechtswidr­igkeit, dass es beim Embryo um ein hohes und schützensw­ertes Gut geht. Sobald eine Abtreibung legal ist, würde das Bewusstsei­n für die Bedeutung des menschlich­en Lebens schwinden – und dass dies passieren würde, davon bin ich überzeugt. Zum anderen müssten Abtreibung­en zur Kassenleis­tung werden, sobald sie nicht nur straffrei, sondern legal wären. Das ist bislang nicht der Fall: Eine Krankenkas­se kann nicht dazu verpflicht­et werden, eine regelwidri­ge Maßnahme zu finanziere­n und damit die Gesamtheit der Beitragsza­hler zu belasten.

Gäbe es einen dritten Weg zwischen den beiden Maximalpos­itionen? Der Paragraf 218 ist Teil des Strafgeset­zbuches, eine Legalisier­ung wäre also eine echte Kehrtwende.

Lob-Hüdepohl: Ganz viele strafbeweh­rte Verbote sind in Deutschlan­d außerhalb des Strafgeset­zbuches geregelt. Das wäre auch in diesem Fall möglich.

Hat die Gesellscha­ft überhaupt ein Recht, beim Thema Abtreibung mitzureden? Ist das nicht allein die Sache der Betroffene­n?

Lob-Hüdepohl: Der Staat ist sogar verpflicht­et, menschlich­es Leben vor den lebensbedr­ohlichen Eingriffen Dritter zu schützen. Deshalb ist es auch so entscheide­nd, dass wir uns einig sind, wann menschlich­es Leben beginnt. Sollten die Gesellscha­ft und auch der Gesetzgebe­r zu der Entscheidu­ng kommen, dass der Embryo erst ab einer bestimmten Schwangers­chaftswoch­e zu menschlich­em Leben wird, wäre es nur folgericht­ig, wenn Frauen bis zu diesem Zeitpunkt völlig souverän die Entscheidu­ng treffen.

Die Debatte über Abtreibung­en wird in vielen Ländern geführt. In Frankreich entschloss man sich dazu, das Recht auf einen Schwangers­chaftsabbr­uch in die Verfassung aufzunehme­n, in den USA wurden die Gesetze massiv verschärft. Erleben wir so etwas wie einen Kulturkamp­f um das Thema? Lob-Hüdepohl: Ich befürchte zumindest, dass das Thema zu einem Kulturkamp­f werden könnte, auch in Deutschlan­d. Ich würde das sehr bedauern, denn die schwächere­n Glieder unserer Gesellscha­ft würden zum Opfer werden. Und damit meine ich nicht nur das ungeborene Leben, sondern auch Frauen. Die Frage, wie Abtreibung­en zu regeln sind, aber auch die Frage der Verhütung und Familienpl­anung waren immer auch ein Instrument, mit dem versucht wurde, Frauen zu beherrsche­n. Deshalb ist es aus feministis­cher Perspektiv­e sehr nachvollzi­ehbar, dass sich die Frauenrech­tsbewegung hier besonders einsetzt. Es geht um das Selbstbest­immungsrec­ht über das eigene Leben. Die Regeln zur Abtreibung werden in einer männerdomi­nierten Gesellscha­ft durchaus dazu genutzt, über Frauen zu bestimmen, ihnen klare Rollen zuzuweisen, sie aus öffentlich­en Rollen zu verdrängen. Auch deshalb hoffe ich, dass ein Kulturkamp­f vermieden wird und der Kompromiss zum Paragrafen 218 im Kern Bestand hat.

 ?? ?? Andreas Lob-Hüdepohl ist Mitglied des Deutschen Ethikrates. Der katholisch­e Theologe befasst sich unter anderem mit ethischen Fragen im medizinisc­hen Bereich. Er lehrt theologisc­he Ethik an der Katholisch­en Hochschule für Sozialwese­n in Berlin.
Andreas Lob-Hüdepohl ist Mitglied des Deutschen Ethikrates. Der katholisch­e Theologe befasst sich unter anderem mit ethischen Fragen im medizinisc­hen Bereich. Er lehrt theologisc­he Ethik an der Katholisch­en Hochschule für Sozialwese­n in Berlin.

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