„Ich wollte mein damaliges Ich auslöschen“
Heute will der Bundestag über ein umstrittenes Gesetz entscheiden, das die Änderungen von Geschlechtseinträgen erleichtern soll. Warum das für Betroffene so wichtig ist, zeigt die Geschichte von Jamie Williams.
Köln „Das ist soooo süß, ich liebe dieses Bild.“Lachend sitzt Jamie auf der Couch seiner Wohnung im Kölner Süden. Er schaut sich alte Familienfotos auf seinem Laptop an. Der 21-Jährige ist glücklich. Glücklich darüber, dass er mittlerweile zufrieden mit seinem Erscheinungsbild ist. Und dass er deshalb die Aufnahmen heute problemlos anschauen kann. Denn das war nicht immer so. „Ich wollte damals, dass alles gelöscht wird und keine Bilder von mir mit langen Haaren existieren. Ich wollte mein damaliges Ich irgendwie auslöschen“, sagt Jamie. Mittlerweile sind die langen Haare Vergangenheit.
Transpersonen wie Jamie sollen nach dem Willen der Ampelregierung künftig einfacher ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister und ihre Vornamen ändern lassen können. Das Selbstbestimmungsgesetz soll das in wesentlichen Teilen verfassungswidrige Transsexuellengesetz von 1980 ablösen. Am heutigen Freitag stimmt der Bundestag darüber ab. Seinen geschlechtsneutralen, ersten Vornamen musste Jamie zwar nie ändern. Aber die Lebensgeschichte des heute 21-Jährigen ist für viele Transpersonen, die sich nicht dem Geschlecht zugehörig fühlen, in dem sie geboren sind, typisch.
Jamie Williams wächst mit zwei Brüdern in Brandenburg auf. Die Drei sehen sich ähnlich, haben die gleichen Hobbys und denselben Modegeschmack. Eine glückliche Familie. Doch irgendwann merkt Jamie, dass etwas anders ist. „Es kam der Moment, in dem die Gesellschaft einen Unterschied zwischen uns gemacht hat. Plötzlich musste ich quasi weibliche Klamotten tragen und es hieß, meine Hobbys wie Fußball spielen oder LEGO bauen passten nicht zu mir.“
Jamie beugt sich diesem Rollenbild zunächst, will keine Probleme verursachen. Doch innerlich wächst der Druck. Das Geschlecht, das ihm bei der Geburt zugewiesen wurde, passt einfach nicht zu seiner Identität. „Ich habe gespürt, dass ich da was mache, das mir nicht guttut und was ich nicht bin. Ich hatte das Gefühl, ich würde mein Leben lang schauspielern und das war sehr schwierig.“
Über drei Jahre lebt Jamie mit diesem Gefühl, spricht mit niemandem darüber und vertraut sich dann doch der Mutter an. Da ist Jamie 15 Jahre alt. Drei Stunden lang sprechen die beiden intensiv über Jamies Gefühle. Es fließen viele Tränen. In einer Zeit, in der andere in seinem Alter feiern, ihren Hobbys nachgehen und sich verlieben, beginnt Jamies Weg zu sich selbst.
Er macht eine psychologische Begleittherapie, lässt Gutachten erstellen, startet eine Hormontherapie, lässt sich die weiblichen Brustdrüsen entfernen (Mastektomie) und ändert seinen Geschlechtseintrag.
2018 beginnt er, in sozialen Medien aktiv zu werden. Mittlerweile folgen dem 21-Jährigen über 80.000 Menschen auf Instagram, fast doppelt so viele auf Tiktok. Als Content Creator, früher gerne „Influencer“genannt, spricht Jamie seit einiger Zeit offen über sein Leben, gibt Workshops und beantwortet Fragen von Jugendlichen oder ihren Eltern. „Ich bekomme ständig Nachrichten von Menschen, die es durch meine Beiträge geschafft haben, sich zu outen oder die endlich wissen, wer sie sind.“An Hassnachrichten habe er sich mittlerweile gewöhnt. Auch das ist ein Zeichen, wie wohl sich Jamie in seinem Körper mittlerweile fühlt.
Seine Gefühle drückt der Brandenburger, der seit einem halben Jahr in Köln lebt, in der Musik aus, schreibt Songs und spielt Gitarre. Außerdem geht er bis zu sechsmal in der Woche ins Fitnessstudio. Seinen Followern zeigt er sich dabei oft oberkörperfrei. Denn er sei stolz auf seinen männlichen Körper – auch auf seine Narben im Brustbereich. Das neue Selbstbestimmungsgesetz sei ein Schritt in die richtige Richtung, findet Jamie. Doch aus konservativen Kreisen kommt auch Kritik. Die Vize-Unionsfraktionsvorsitzende Dorothee Bär (CSU) fürchtet etwa, junge Menschen könnten zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen geradezu ermutigt werden. Dem hält Jamie seine Geschichte entgegen. „Wenn ich den Weg nicht hätte gehen müssen, dann wäre ich ihn nicht gegangen. Das ist ein Weg, den man sich nicht freiwillig aussucht. Das war emotional anstrengend. Es war psychisch anstrengend. Es war sozial anstrengend. Das hat so viel mit mir gemacht. Diesen Weg wünsche ich niemandem.“(Thomas Bremser, dpa)