Die Geburtsstunde des Impressionismus
Vor 150 Jahren wagte ein loser Zusammenschluss von Künstlern die unabhängige Präsentation ihrer Werke. Sie brachen mit den Regeln ihrer Zeit. Wie dadurch eine Stilrichtung entstand, zeichnet das Musée d’Orsay nach.
Paris Die Idee war innovativ, der rebellische Akt einer aufstrebenden Künstler-Garde. Zwei Wochen vor Beginn des Salons, der offiziellen Kunstmesse an der Pariser Prachtavenue Champs-Élysées, eröffnete am 15. April 1874 eine Ausstellung von Malern, Bildhauern und Graveuren, die ihre Werke unabhängig von einer strikten Jury präsentierten. Beteiligt waren weder Händler noch Galeristen – die Künstler hängten ihre Werke eigenhändig in einem ehemaligen Foto-Studio auf. 30 Männer, darunter Edgar Degas, Paul Cézanne, Claude Monet, Auguste Renoir, Camille Pissarro oder Alfred Sisley, und mit Berthe Morisot nur eine einzige Frau, emanzipierten sich mit ihrer Initiative von bisher geltenden Standards und Kriterien. In finanzieller Hinsicht war die Schau ein Desaster. Wenige Bilder wurden verkauft, die Ausstellenden mussten Nachzahlungen leisten. Doch es war geboren, was später unter dem Namen Impressionismus als bedeutende Stilrichtung in die Kunstgeschichte eingehen sollte.
Dies gelang durch den gemeinsamen Auftritt einer Avantgarde, die neue Arbeitsprozesse wie die skizzenhafte Freilichtmalerei einführte. Statt auf historische, religiöse oder mythologische Motive setzte sie auf eine subjektive Darstellung eines Augenblicks. Durch leichte Pinselstriche entstand der Eindruck einer flüchtigen Momentaufnahme.
Als Impressionisten bezeichneten sich die Betroffenen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, sondern erst in einer dritten Ausstellung zwei Jahre später. Doch der Begriff kam bereits in jenem Frühjahr auf, durch den Journalisten Louis Leroy. In einem am 25. April 1874 in der Satirezeitschrift Le Charivari veröffentlichten Artikel spottete er über die Schau und speziell über Monets dort ausgestelltes Bild „Impression. Sonnenaufgang“. Das Werk aus dem Jahr 1872 zeigt den Hafen von Le Havre mit drei Fischerbooten; im dunklen Wasser spiegelt sich das orangefarbene Licht der aufgehenden Sonne. Die Schiffe und Industrieanlagen im Hintergrund sind nur verschwommen erkennbar, der atmosphärische Eindruck steht im Vordergrund. Monets Meisterwerk wird derzeit neben rund 160 anderen, teils sehr berühmten Bildern in der Ausstellung „Paris 1874: Den Impressionismus erfinden“im Musée d’Orsay gezeigt. Sie zeichnet nach, in welchem historischen Kontext die Stilrichtung entstand. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 und dem Aufstand der Pariser Kommune 1871 sei von Künstlern erwartet worden, geschichtliche Ereignisse darzustellen, sagt Sylvie Patry, eine der Kuratorinnen. „Doch die Impressionisten wollten die Welt so malen, wie sie ist: mitten im Wandel.“Die Industrialisierung, die rasante
Entwicklung der Städte, die Globalisierung seien wichtige Prozesse dieser Zeit gewesen und Frankreichs Künstler bildeten Szenen des modernen Stadtlebens ab. Der Kunstkritiker Jean Prouvaire schrieb, die Werke gäben vor allem einen Eindruck – auf Französisch: „impression“– der Dinge wieder, „nicht ihre Realität selbst“.
Was dagegen mehr den damaligen Konventionen entsprach, das zeigt die Ausstellung ebenfalls mit Werken, die zeitgleich zur ersten Impressionisten-Schau beim Salon zugelassen waren. So wird der
Kontrast zwischen der Kunst nach bisher gültigen Regeln und dem neuen Stil der impressionistischen Talente sichtbar, ja der „visuelle Schock“, der sich aus diesem Bruch mit alten Gepflogenheiten ergab.
Und doch handelte es sich bei den Impressionisten der ersten Stunde keinesfalls um eine uniforme Strömung, wie die Kuratorinnen ebenfalls betonen, sondern um ein loses Netzwerk von Individualisten. Als Schöpfer von Ölgemälden, Aquarellen, Druckgrafiken oder Skulpturen in Marmor, Gips und Terrakotta, die sowohl hinsichtlich ihres Alters als auch ihrer sozialen Stellung oft weit auseinander lagen, teilten sie in erster Linie den Wunsch, frei und unabhängig auszustellen und mit dem akademischen Ansatz ihrer Zeit zu brechen.
Von den damals 31 sind heute nur noch – oder immerhin – sieben weltweit bekannt. Manche Maler wie Edgar Manet beteiligten sich nicht an der Initiative. Er suchte stattdessen den Erfolg über bewährte Kanäle. Heute gilt er dennoch als wichtiger Vertreter des Impressionismus und einige seiner schönsten Gemälde wie „Der Pfeifer“haben ihren Platz im Musée d’Orsay, ebenso wie unter anderem Edgar Degas’ „Die Tanzklasse“, Claude Monets „Mohnfeld bei Argenteuil“oder Auguste Renoirs „Tanz im Moulin de la Galette“.
Das Museum verfügt über die meisten impressionistischen Werke weltweit und erhielt für die Ausstellung noch etliche Leihgaben. Diese wird durch ein Virtual-Reality-Angebot ergänzt und läuft bis zum 14. Juli. Dann wandert sie weiter und ist ab September in der National Gallery of Art in Washington zu sehen.
> Info „Paris 1874: Den Impressionismus erfinden“im Musée d’Orsay. Infos unter www.musee-orsay.fr.