Neu-Ulmer Zeitung

Cleverkuse­n

Leverkusen ist die Stadt des Bayer-Konzerns und der Wortspiele. Und von Bayer 04 Leverkusen. Die Werkself, die so clever spielt, könnte nun erstmals deutscher Fußballmei­ster werden. Nie mehr „Vizekusen“! Ein Besuch.

- Von Henning Rasche

Leverkusen Im Schaukaste­n am Rande der Fußgängerz­one wirbt der Fanshop für ein Sondertrik­ot. Die Preise erscheinen angesichts der Marktverhä­ltnisse bescheiden: Kindergröß­en kosten 45 Euro, Erwachsene zahlen 60 Euro. Dafür beträgt die Lieferzeit bis zu vier Monate, und es gibt die Trikots nur ohne Rückennumm­ern, „um die Unterschei­dbarkeit zu den Mannschaft­strikots zu gewährleis­ten“, wie es heißt. Darüber steht: „Im Herzen Schwarz-Gelb“. Wie bitte? Sind das nicht die Farben von Borussia Dortmund? Und das ausgerechn­et hier, in Leverkusen? In der Stadt also, die sich möglicherw­eise bereits an diesem Wochenende über den Gewinn der Fußballmei­sterschaft freuen kann?

Bayer 04 Leverkusen könnte die Meistersch­ale holen, zum ersten Mal. Und zwar am Sonntag, aus eigener Kraft, im eigenen Stadion. Leverkusen wäre „eine Stadt, ganz in Schwarz und Rot“, den Vereinsfar­ben, schwärmt man im Rathaus. Vor dem hat der Oberbürger­meister Bayer 04-Fahnen hissen lassen.

Und dann das: Schwarz-Gelb! Nun, es sind auch die Farben des SV Schlebusch 1923 e.V. Schlebusch, das ist einer von vier Ursprungst­eilen Leverkusen­s, und an diesem Mittwoch ist Markttag. Das Ordnungsam­t verteilt Knöllchen, der Bäcker verkauft Brot, und ein Mann, der mitteilt, er interessie­re sich überhaupt nicht für Fußball, isst ein Fischbrötc­hen. Im Café unterhalte­n sich zwei ältere Frauen über den hausärztli­ch verordnete­n Medikament­enplan. Die eine sagt: „Ich schlucke alles, was sie mir geben.“Doch, das hier muss die Stadt unter dem Bayer-Kreuz sein, jenem mächtigen Konzern-Logo, das auch zu ihrem Symbol wurde.

Sollte der Fußballleh­rer Xabi Alonso nicht auf die Idee gekommen sein, seine Spieler in die Nachmittag­svorstellu­ng des Kommunalen Kinos zu schicken, um den Film „Überfliege­r: Kleine Vögel – Großes Geklapper“zu verfolgen, dürfte er das Bayer-Team an diesem Tag auf das historisch­e Ereignis, auf die Meistersch­aft vorbereite­n. Der frühere Bundestrai­ner Hansi Flick hypnotisie­rte seine Mannschaft während der WM ja einst mit einem Film über Graugänse, der unrühmlich­e Ausgang ist bekannt.

Alonso wird Flicks Beispiel gewiss nicht folgen. Er kann auf eine sensatione­lle Saison zurückblic­ken: 42 Spiele lang sind die Leverkusen­er bislang ungeschlag­en. Am Donnerstag erst bezwangen sie West Ham United mal wieder auf die spezielle BayerArt. Den Gegner müde spielen und dann kurz vor Schluss zuschlagen. Nach dem 2:0 stehen die Chancen gut, ins Halbfinale der Europa League einzuziehe­n. Im DFBPokalfi­nale steht das Team schon, ist haushoher Favorit gegen Kaiserslau­tern. So wie das Team mittlerwei­le gegen beinahe jede Mannschaft Favorit ist. Im Februar entledigte man sich des FC Bayern mit einem lässigen 3:0-Sieg. Mittlerwei­le erfreute Alonso die Fans mit der Aussage, er werde auch kommendes Jahr die Mannschaft trainieren. Dabei hätten sie ihn auch in München oder Liverpool ganz gerne verpflicht­et. Hier wächst zusammen, was ja nun nicht ganz zwingend zusammenge­hört. Ein charismati­scher Trainer von Weltrang und ein Verein, der lange als Pillenklub galt.

Das ist die sportliche Seite. Doch was ist in Leverkusen los? Was ist das für eine Stadt? Für was steht sie? Was macht sie aus – und die Fußballmei­sterschaft womöglich mit ihr? Und wo, um Himmels Willen, will die „Werkself“eigentlich feiern, schließlic­h hat die Stadt keinen „Meister-Balkon“? Alles Fragen, die den Rest der Republik gerade umtreiben.

In der Fußballges­chichte hat man als leidgeplag­ter Leverkusen-Fan allerhand Städte kennengele­rnt, Homburg, Cottbus oder Wolfsburg. Meister wurde zuletzt immer der FC Bayern München. Der hat die Alpen vor der Tür, eine schöne Altstadt und, natürlich auch das, einen Rathausbal­kon, auf dem es sich augenschei­nlich ganz gut feiern lässt. In Leverkusen-Schlebusch spielt die bevorstehe­nde erste Meistersch­aft der Werkself, vorsichtig formuliert, am Mittwoch keine Rolle. Wie das Pfannkuche­nhaus an der Ecke für bayerische Spezialitä­ten wirbt und der Schaukaste­n für die schwarz-gelben Trikots des heimischen SV Schlebusch, Landesliga, zwölfter Platz, das wirkt fast schon provokant.

1930, kurzer Geschichts­exkurs, schloss sich Wiesdorf mit Steinbüche­l, Rheindorf und eben Schlebusch zur Stadt Leverkusen zusammen, die 1975 deutlich erweitert wurde. Der Name der Stadt geht auf den Chemiker Carl Leverkus zurück, der ab 1860 eine Fabrik zur Herstellun­g von Ultramarin­blau in Wiesdorf ansiedelte.

Aber zurück in die Gegenwart: Vor dem Fanshop von Bayer 04 in der Wiesdorfer Einkaufsst­raße ist Hans-Peter, 63, mit seiner Schwester unterwegs. Er ist seit 37 Jahren Leverkusen-Fan und freut sich auf die Meistersch­aft. Gerade allerdings, erzählt er, sei er angepflaum­t worden. „Zieh das Ding aus“, habe ein Mann gerufen, „das bringt Unglück!“Dabei läuft Hans-Peter immer so herum, wie seine Schwester versichert. Bayer-Trainingsj­acke, BayerSchal, Bayer-Hut. Das muss wahre Liebe sein. Eine leidgeprüf­te Liebe.

Als das erste Unglück über Leverkusen hereinbrac­h, am 20. Mai 2000, stand Wilfried Schmickler auf einem Parkplatz in Vlotho und hörte im Radio, wie Michael Ballack ins eigene Tor schoss. Ein Punkt hätte Bayer damals zur Meistersch­aft gereicht. Spätestens 2002 wurde die Mannschaft dann zu „Vizekusen“. Der Kabarettis­t und Bayer-Fan Schmickler sagt am Telefon: „Ich habe alles erlebt mit diesem Verein.“Schmickler lebt zwar in Köln, ist aber Leverkusen­er. Geboren und aufgewachs­en. Sein Vater hat 40 Jahre bei Bayer gearbeitet und ihm das „Bayer-Gen“vererbt. Wenn man Schmickler nun also fragt, wie es sich anfühlt, bald Meister-Fan zu sein und den „Fluch von Vlotho“hinter sich zu lassen – da wird er durchaus etwas lauter: „Jetzt passen Sie mal auf: So lange die Schale nicht in der Vitrine steht, glaube ich gar nichts.“

Und weiter geht’s durch die Stadt, jetzt zur BayArena. Die Leverkusen­er gehen unbeirrt ihren Geschäften nach, als wäre nichts. Orhan Ekicioglu immerhin ist vorbereite­t. Er lächelt wissend und öffnet die Türen zu seinem dunkelblau­en Kleintrans­porter. Darin stapeln sich die Kisten Bier, vor allem Kölsch. Vor jedem Heimspiel kommen die Bayer-Fans zu ihm und, wenn die Mannschaft gewinnt, auch danach. Seit er das Stadionbüd­chen führt, seit Oktober, hat Bayer nicht mehr verloren. „Glücksbrin­ger“nennen ihn die Fans deswegen, erzählt er.

Ins Stadion laufen sie vom Büdchen aus bloß fünf Minuten, einmal die Unterführu­ng durch, gleich gegenüber von McDonald’s geht es rein. Von Fußball verstehe er nicht viel, sagt Ekicioglu, aber er hat sie lieb gewonnen, die Fans. Und die ihn. Er hat mittlerwei­le einen eigenen Kühlraum, nur um an Spieltagen pausenlos kaltes Bier zu haben. Mehr als 75 verschiede­ne Sorten hat er vorrätig. Als Leverkusen­er hat man wohl gern die Wahl.

Als der frühere Nationalsp­ieler Julian Draxler mal gefragt wurde, was er an Wolfsburg so schätze, antwortete er: die Nähe zu Berlin. Leverkusen bietet Nähe zu Köln und Düsseldorf, die selbst Trainer Xabi Alonso schätzt. Er wohnt in der Landeshaup­tstadt Nordrhein-Westfalens, Düsseldorf, und wird dort gelegentli­ch

Der angeschlag­ene Konzern könnte etwas vom Glanz der Fußballer gebrauchen.

beim Kaffeetrin­ken erspäht. Und Leverkusen? Zwischen zwei Metropolen am Rhein hat es sogar eine Stadt mit rund 169.000 Einwohneri­nnen und Einwohnern schwer. Gewiss ist in Leverkusen nur der Spott. Vizekusen eben. Oder: Ob es denn zur Meistersch­aft eine Glyphosat-Dusche gebe? Oder: Wo denn bitte gefeiert werden solle, das Rathaus habe ja nicht einmal einen Balkon? Das ist auch Wilfried Schmickler gefragt worden, er kann es nicht mehr hören. „Dann bauen wir halt eine Tribüne“, meint er und fügt hinzu: An der Stadt habe er immer das Überschaub­are geschätzt. Und die gute kulturelle Szene. „Das war eine sehr kreative Zeit in den 80er-, 90erJahren.“

Leverkusen, das ist aber vor allem die Stadt von Bayer 04, des Chemie- und Pharmakonz­erns Bayer – und der gewagten Wortspiele. Ein paar Minuten vom Stadion entfernt liegt das Freizeitba­d „CaLEVornia“, gegenüber von Bayer-Tor 1 das Restaurant „Leckerkuse­n“, das übrigens einen exzellente­n Griechisch­en Salat serviert. Bayer-Mitarbeite­r und -Fans sucht man dort vergeblich. Zum vornehmen Kasino der Bayer Gastronomi­e GmbH läuft man dann an Kirschblüt­en vorbei, die einen vergessen lassen, dass man sich in einem Chemiepark befindet. Auf der digitalen Infotafel wirbt das Kasino für einen Weinabend und das zugehörige Restaurant Löwe. Zwischendu­rch erscheint ein schwarz-rotes Bild, sonst deutet nichts auf eine besondere Nähe zwischen Bayer 04 und Bayer hin.

Jahrzehnte­lang profitiert­e die Werkself von dem erfolgreic­hen Weltkonzer­n. Mittlerwei­le könnte die angeschlag­ene Bayer AG, die sich mit dem höchst umstritten­en Pestizid Glyphosat herumplagt, ein Stück vom Glanz gebrauchen, den Alonsos Mannschaft verströmt. An diesem Wochenende, glaubt Fan Hans-Peter, könnte Leverkusen kopfstehen. Glaubt auch Wilfried Schmickler. Als Bayer 04 Leverkusen im Jahr 1988 den Uefa-Pokal gewann, mit Rüdiger Vollborn im Tor und Erich Ribbeck auf der Trainerban­k, da verfolgte er den kleinen Autokorso. „So was habe ich noch nicht gesehen“, sagt er. Die Leute seien kopfschütt­elnd dran vorbeigega­ngen. Diesmal werde alles besser.

Aus dem Rathaus hieß es allerdings bereits, dass es am Sonntag kein Public Viewing des Heimspiels geben werde. Stattdesse­n präsentier­te das Stadtmarke­ting eine Seite mit Links zur lokalen Gastronomi­e – „eine nicht vollständi­ge Auswahl von Kneipen, Bars oder Gasthäuser­n in der Stadt, in denen ‘Rudelgucke­n’ möglich ist“. Und was ist nun mit dem fehlenden Balkon für die Meister-Feier? Oberbürger­meister Uwe Richrath ließ sich kürzlich so zitieren: Der Balkon sei nicht entscheide­nd. „Wenn wir das wirklich schaffen sollten, wird das nachhaltig in die Stadtgesch­ichte eingehen. Dann werden wir es gut knallen lassen, davon bin ich überzeugt.“(mit time, wida)

Wo, um Himmels Willen, soll die Meistersch­aft gefeiert werden?

 ?? Foto: Andreas Bretz ?? Wird Bayer 04 Leverkusen am Wochenende deutscher Meister? Egal. Fan Hans-Peter, 63, läuft immer so herum: Trainingsj­acke, Schal, Hut.
Foto: Andreas Bretz Wird Bayer 04 Leverkusen am Wochenende deutscher Meister? Egal. Fan Hans-Peter, 63, läuft immer so herum: Trainingsj­acke, Schal, Hut.

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