Neu-Ulmer Zeitung

Kein Punkt für Barbie

In der Spielzeugb­ranche gilt: Gut ist, was sich verkauft. Doch ein kleiner Verein aus Ulm kämpft hartnäckig gegen den stetig wachsenden Berg mittelmäßi­ger Brettspiel­e, Sprechpupp­en und Monsterfig­uren.

- Von Christine Frischke

Ulm Der Bagger sieht aus, wie man sich einen Spielzeugb­agger für den Sandkasten vorstellt: schwarze Kunststoff­reifen, gelber Aufbau, ein langer Arm mit einer Schaufel. Er wirkt robust, ein Kind kann darauf sitzen und ihn mit einem Hebel steuern. Nur leider stimmt etwas mit der Schaufel nicht. „Das Kind sitzt im Sandkasten, schaufelt die Erde hoch, die Schaufel rastet oben steil ein – und der ganze Sand rutscht wieder heraus,“sagt Ingetraud Palm-Walter, die den Bagger im Videogespr­äch vor die Kamera ihres Computers wuchtet: „So macht Spielen keinen Spaß!“

Kein Spaß! Ein vernichten­des Urteil. Und Palm-Walter muss es wissen. Schließlic­h ist die 65-jährige ehemalige Erzieherin Vorstandsm­itglied von „spiel gut“.

„Spiel gut“ist in Deutschlan­d eine Institutio­n, eine Art Dudenredak­tion für Spielzeuge. Die Geschichte des „Arbeitsaus­schuß kinderspie­l + spielzeug“– so der offizielle Titel – begann vor 70 Jahren mit einer Spielzeuga­usstellung in einem Ulmer Museum. Die damaligen Mitglieder verfassten einen Ratgeber für „gutes Spielzeug“. Bis heute zeichnet der Verein Spielsache­n aus, die seinem strengen Kriterienk­atalog standhalte­n. Der orangefarb­ene Punkt, das „spiel gut“-Siegel, ist die einzige Auszeichnu­ng in Deutschlan­d, die pädagogisc­h wertvolles Spielzeug unabhängig bewertet. Gefördert wird die Arbeit vom Bundesfami­lienminist­erium. „Im Laden können Eltern nicht sehen, was in einem Spielzeug steckt“, sagt Palm-Walter. „Und Enttäuschu­ngen sind die größten Spielverde­rber.“

Eltern eine Orientieru­ng beim Spielzeugk­auf bieten – das erscheint heute wichtiger denn je. Etwa fünf Milliarden Euro werden in Deutschlan­d jährlich für Spielzeug und Spiele ausgegeben, allein auf der Nürnberger Spielwaren­messe wurden dieses Jahr rund 120.000 Neuheiten präsentier­t. In der Flut von Brettspiel­en, Puzzles, Bauklötzen, Eisenbahne­n, sprechende­n Puppen und Monsterfig­uren will „spiel gut“für Verbrauche­r ein Leuchtturm sein.

Wobei seine Leuchtkraf­t eher gering ist, verglichen mit der Energie, mit der internatio­nale Spielzeugk­onzerne ihre Produkte in den Markt drücken. Allein Lego gab 2022 fast 42 Millionen Euro für Werbung aus – nur in Deutschlan­d. „Spiel gut“dagegen besteht im

Kern aus ein paar Dutzend Ehrenamtli­chen. Ihre Arbeit fühle sich oft wie ein Kampf gegen Windmühlen an, räumt Palm-Walter ein. Ein Kampf, wie ihn die Gallier in den Asterix-Comics gegen die übermächti­gen Römer führen.

Für Konzernbil­anzen ist Spielzeug gut, wenn es sich häufig verkauft. Dass es die Fantasie anregt, lange hält und möglichst umweltvert­räglich produziert wurde – Punkte, die „spiel gut“wichtig sind –, dürfte in vielen Fällen zweitrangi­g sein. Aber liefern die Hersteller letztlich nicht das, was Kinder eben wollen? „Bei ‚spiel gut‘ kommt die Empfehlung von Erwachsene­n für Erwachsene“, urteilt jedenfalls Steffen Kahnt, Geschäftsf­ührer des Bundesverb­ands des Spielwaren-Einzelhand­els. „Leuchtende Augen gibt es aber nur dann, wenn die Eltern sich an den Wunschzett­el der Kinder halten.“

Um die 500 Produkte testen die „spiel gut“-Mitglieder pro Jahr. Sie lassen Familien und Kindergärt­en damit spielen und in seitenlang­en Fragebögen bewerten. Danach tagt eine Jury aus Architekti­nnen, Ärzten, Psychologe­n, Designern und Erzieherin­nen. Auch der Augsburger Spielzeugf­orscher Volker Mehringer ist Mitglied. „Da sitzen Leute aus den unterschie­dlichsten Diszipline­n zusammen, die schon Hunderte von Spielzeuge­n bewertet haben“, sagt er. „Das ist ein Wissenssch­atz, über den nur wenige in der Branche verfügen dürften.“

Was die Spieletest­er für gut befinden, stellen sie auf ihrer Webseite vor. Gegen eine Lizenzgebü­hr können die Hersteller mit der Auszeichnu­ng werben. Das macht zum Beispiel das Start-up Joboo, dessen bunte Stapelstei­ne einen kleinen Hype losgetrete­n haben. Mit den geschäumte­n Steinen zum Balanciere­n und Spielen hat Joboo nach eigener Angabe vergangene­s Jahr 15 Millionen Euro umgesetzt – vier Jahre zuvor waren es nur 500.000 Euro. „Das Siegel war für uns eine schöne, unabhängig­e Bestätigun­g von außen, als wir noch unbekannte­r waren“, sagt Gründer Stephan Schenk.

Längst nicht alle ausgezeich­neten Hersteller packen das Siegel auf ihre Produkte. Im Normalfall sind die Verpackung­en bereits produziert und können frühestens bei der nächsten Auflage mit dem orangefarb­enen Punkt versehen werden. Großuntern­ehmen wie Lego verzichten laut „spiel gut“auf das Siegel, selbst wenn sie es erhalten. Ihre Produkte würden ohnehin global vermarktet, und internatio­nal habe die Auszeichnu­ng kein Gewicht.

Gut die Hälfte der getesteten Spielzeuge wird abgelehnt, so wie der Bagger mit der fehlerhaft­en Schaufel. Oft passe auch die Altersanga­be nicht. Viele Hersteller würden diese für ihre Spielzeuge übermäßig absenken, um möglichst viele Kinder zur Zielgruppe zu erklären. Klassiker wie Barbie sucht man in der „spiel gut“-Auswahl vergeblich. „Der unnatürlic­h schlanke Körper, das Konsumverh­alten – die Barbie transporti­ert Werte, die für uns inakzeptab­el sind“, sagt Palm-Walter. BarbieHers­teller Mattel teilt auf Anfrage mit, man schätze die Unabhängig­keit von „spiel gut“, sehe den Verein

aber eher als Nischenphä­nomen.

Viele Puppen haben aus Sicht von „spiel gut“noch ein weiteres Problem. Sie enthalten oft den Kunststoff PVC, den der Verein seit 2005 ausschließ­t. Wird ein Spielzeug nicht prämiert, erhalten die Hersteller ein ausführlic­hes Feedback. Sie können nachbesser­n und das Spielzeug dann erneut testen lassen. Öffentlich macht „spiel gut“seine Kritik nicht. Die Mitglieder wollen keine Negativ-PR machen.

Auch Spiele des Unternehme­ns Ravensburg­er werden regelmäßig vom Ulmer Verein getestet. Oft geht das gut. Dann sei es eine „wertvolle Bestätigun­g, dass das Produkt wirklich gut ist“, sagt Sprecherin Cordula Schnieber. Gerade im Bereich der Lernspiele mache sich das bezahlt: „Wenn da im Handel mehrere ähnliche Produkte nebeneinan­der liegen, greift man eher zum Spiel mit dem Siegel.“

Manchmal schütteln sie bei Ravensburg­er aber auch die Köpfe, wenn mal wieder ein Brief aus Ulm eintrifft. Dann geht es um, nun ja, Geschmacks­fragen. Denn der Verein bewertet auch die Ästhetik, das Design eines Produktes. Zu bunt, überzeichn­et, im Comicstil? Das kommt nicht gut an.

Ravensburg­er reichte 2017 das Lernspiel „Die Lese-Ratte“ein. Der Karton zeigte eine grinsende Ratte mit Knollennas­e, die an den Disney-Film Ratatouill­e erinnert. „Spiel gut“verweigert­e das Siegel. Die Begründung: Der Wiederspie­lwert sei gering, die grafische Darstellun­g der Personen und Tiere „grotesk“.

Ravensburg­er-Sprecherin Cordula Schnieber kann das schwer nachzuvoll­ziehen: Die Lese-Ratte sei ein Topseller in der Reihe ‚Spielend Neues Lernen‘, außerdem müsse ein Produkt im Regal ja auch auffallen. „Das schönste Spiel nützt uns nichts, wenn es sich nicht verkauft.“

Bisweilen ist man aber auch bei „spiel gut“kompromiss­bereit: 2021 etwa bekamen die Mitglieder eine neue Version des Klassikers „Obstgarten“von Haba auf den Tisch. Doch der Rabe, der den Kindern im Spiel das Obst stibitzt, hatte nun statt eines schwarzen einen gelben Schnabel. „Raben haben aber nun mal schwarze Schnäbel“, sagt Vorstandsm­itglied PalmWalter.

Am Ende vergaben sie das Siegel trotzdem. Palm-Walter räumt ein: „Tatsächlic­h sieht er mit gelbem Schnabel viel freundlich­er aus.“

 ?? Foto: Caroline Seidel, dpa ?? Der Verein „Spiel gut“zeichnet pädagogisc­h wertvolles Spielzeug aus. Barbie fällt bisher durch.
Foto: Caroline Seidel, dpa Der Verein „Spiel gut“zeichnet pädagogisc­h wertvolles Spielzeug aus. Barbie fällt bisher durch.

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