Neu-Ulmer Zeitung

Zu wenig Zug drin

Die Bundesregi­erung will bis 2030 drei Viertel des Schienenne­tzes elektrifiz­ieren. Stand heute ist dieses Ziel kaum zu halten. Woran das liegt, was Experten fordern – und wie die Lage in Bayern ist.

- Von Nicolas Friese

Berlin Im Koalitions­vertrag von SPD, Grünen und FDP steht es schwarz auf weiß: „Bis 2030 wollen wir 75 Prozent des Schienenne­tzes elektrifiz­ieren und innovative Antriebste­chnologien unterstütz­en.“Ein elektrisch betriebene­s Schienenne­tz verringert den CO2-Ausstoß und ist klimafreun­dlicher. Die Allianz pro Schiene hat nun gemeinsam mit dem Verein Deutscher Verkehrsun­ternehmen (VDV) untersucht, wie weit die Regierung bei der Umsetzung ihrer Pläne ist.

Nach Angaben der beiden Organisati­onen sind bislang 62 Prozent des Bundesschi­enennetzes in Deutschlan­d elektrifiz­iert, das heißt, knapp zwei Drittel des Schienenne­tzes in Deutschlan­d sind mit einer Oberleitun­g versehen. „Der Schienenve­rkehr soll zwar weiter wachsen“, sagt der Geschäftsf­ührer der Allianz pro

Schiene, Dirk Flege. Aber: „Da, wo keine Oberleitun­g hängt, ist jedoch kein wirkliches Wachstum möglich.“In der Politik stehe die Elektrifiz­ierung des Schienenne­tzes schon seit Längerem auf der Agenda, sowohl in der letzten MerkelAmts­zeit (70 Prozent des Bundesschi­enennetzes bis 2025) als auch bei der aktuellen Ampelregie­rung. „Alle kündigen es an“, so Flege, „es passiert jedoch kaum etwas.“

Laut Flege wolle die Regierung bis 2030 „erschütter­nd wenig“elektrifiz­ieren. 1100 Kilometer habe sie in der Planung. Das entspreche 80 Kilometer pro Jahr. Nötig, um das selbst gestellte Ziel einzuhalte­n, seien jedoch 4500 Kilometer – etwa 600 Kilometer pro Jahr. „Sonst werden wir nicht auf die angestrebt­en 75 Prozent, sondern nur auf 65 Prozent kommen.“Beschämend sei zudem, so Flege, dass sich in einigen Bundesländ­ern gar nichts verändern werde. „Wenn man den Regierungs­angaben glaubt, werden Sachsen und

Niedersach­sen bis 2030 null Prozent Fortschrit­t bei der Elektrifiz­ierung ihres Schienenne­tzes haben.“

Die Allianz pro Schiene berichtet, dass in Bayern aktuell 57 Prozent der Schienenin­frastruktu­r im Eigentum des Bundes elektrifiz­iert sind. Nach Angaben des Bundestags soll, nach dem aktuellen Vorhaben der Ampel, der Elektrifiz­ierungsgra­d im Freistaat Bayern bis 2030 nur auf rund 58 Prozent steigen. In Bayern gehe aber dennoch mehr, sagt der CSU-Fraktionsv­orsitzende Klaus Holetschek. Mit der Fortschrei­bung der bayerische­n Elektromob­ilitätsstr­ategie komme die Elektrifiz­ierung im Freistaat „einen großen Schritt voran.“Mit dieser Strategie möchte Bayern für mehr lokalen, emissionsf­reien Bahnbetrie­b sorgen. Ziel dabei ist es, den Dieselbetr­ieb im SchienenPe­rsonennahv­erkehr

bis zum Jahr 2040 zu beenden. Holetschek: „Hier sind wir als Freistaat und Schwaben auf einem sehr guten Weg und stehen zu unserem Verspreche­n, das sogenannte Dieselloch im Allgäuer Raum klimafreun­dlich aufzufülle­n.“In Schwaben sei unter anderem die 85 Kilometer lange Strecke Neu-Ulm – Memmingen – Kempten zur Elektrifiz­ierung geplant.

Im europäisch­en Vergleich liegt Deutschlan­d über dem Durchschni­tt von 57 Prozent. Zwischen Polen und Frankreich befindet sich die Bundesrepu­blik im Mittelfeld des Rankings. Spitzenrei­ter ist die Schweiz: Die Quote dort liegt bei hundert Prozent. Doch warum geht es bei der Elektrifiz­ierung in Deutschlan­d so schleppend voran?

Flege nennt drei Ursachen: Erstens fließe zu wenig Geld, zweitens dauere alles zu lange und drittens stehe oftmals die Bürokratie im Weg. „Eine verpflicht­ende KostenNutz­en-Planung dauert oftmals zwei bis drei Jahre.“Das müsse schneller gehen.

Die Elektrifiz­ierung sei aber nicht nur klimapolit­isch wichtig, sagt der VDV-Eisenbahne­xperte Martin Henke. Sie biete den Eisenbahne­n eine preiswerte­re und berechenba­re Antriebsar­t.

Um die Ziele der Regierung einhalten zu können, fordern die Allianz pro Schiene und der VDV einen Fonds für den Neu- und Ausbau des Schienenne­tzes. Zudem solle der Prozess der Elektrifiz­ierung entbürokra­tisiert werden, sagt Henke. „Das hat in einer Ausnahmesi­tuation wie bei der Hochwasser­katastroph­e im Ahrtal gut funktionie­rt.“

Wenn die Ursachen für den langsamen Ausbau angegangen werden würden, stehe dem 75-Prozent-Ziel der Regierung nichts mehr im Wege. „Wir halten ein Elektrifiz­ierungszie­l von 80 Prozent bis zum Jahr 2035 nicht nur für wünschensw­ert, sondern auch für realistisc­h“, so Henke.

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Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Auch beim Oberleitun­gsbau geht zu wenig voran.

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