Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (15)
Roman von Iris Wolff
Vier Generationen umfasst die Geschichte einer deutschstämmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereignisse ihre Spuren hinterlassen, die aber doch einen zentralen Bezugspunkt kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart
Hier stellen wir die Fragen.“
Es endete damit, dass er das Protokoll des Verhörs unterschreiben musste, ohne es vorher lesen zu dürfen, und angewiesen wurde, künftig über jeden Besuch einen Bericht auf seiner registrierten Schreibmaschine zu verfassen. Hannes wartete auf eine erneute Einladung ins Polizeipräsidium, Kontrollbesuche, Schikanen, doch Weiteres blieb ihm erspart. Das mochte daran liegen, dass der Bürgermeister ihn protegierte, oder daran, dass Malva ihren Mann Konstanty an die Sache mit der Freundschaft erinnerte.
Der Hass, dem Hannes in dem fensterlosen Raum begegnet war, ließ ihn nicht los. Die vermeintlichen Vergehen anderer wurden mit solcher Hingabe aufgespürt und bestraft, die Richtung war so eindeutig, als wäre alles nur dazu da, von der eigenen Misere und Unzulänglichkeit abzulenken. Angeblich ging es um eine sichere Zukunft. Um Gerechtigkeit. Dieses System lebte davon, dass jeder schuldig war.
Es gab nur ein Dafür oder Dagegen.
Läuten war eine Kunst für sich. Die Glocken offenbarten, welche Konfession der Verstorbene hatte, ob eine Frau, ein Mann oder ein Heranwachsender beerdigt wurde.
Sie zeigten die Dauer der Totenwache an, erinnerten an das Ankleiden für die Beerdigung und gaben das Zeichen für die Prozession zum Friedhof. Eine Stunde vor der
Beerdigung läutete die kleine Glocke, eine halbe Stunde vorher die große, eine Viertelstunde vorher läuteten beide Glocken – dann war es an der Zeit, aus dem Haus zu gehen.
Starb ein junger Mensch wie Echo, läuteten alle Kirchenglocken. Das Ausläuten begann mit der evangelischen Kirche, dann stimmten die anderen Kirchen ein, über alle Dächer und Konfessionen hinweg, die reformierte, die orthodoxe, die griechisch-katholische.
Die Fenster im Haus von Ruth und Severin waren geöffnet worden, die Stühle auf den Kopf gestellt. So schnell durfte sich der Tod hier nicht wieder zu Hause fühlen. Samuel ging zwischen den aufragenden Stuhlbeinen umher, half, Kränze und Sträuße in den Hof zu tragen, und zählte mit seinem Freund Oswald die Rufe eines Kuckucks, der sich in den Garten verirrt hatte. Der Ernst der Erwachsenen blieb etwas, das die beiden Jungen nicht berührte.
Echo war im Hof aufgebahrt, sein Gesicht kaum vom Kissen zu unterscheiden, nur die Hände hoben sich auf dem dunklen Anzug ab. Ruth bemühte sich, die Fliegen zu verscheuchen. Jemand stellte einen Bottich Eiswasser unter den Sarg.
Hannes besprach sich mit Kurator und Kirchenvater. Letzterer begegnete ihm reserviert, fast unfreundlich, seit bekannt war, dass der junge Pfarrer im Konfirmandenunterricht Black Sabbath auf dem Kassettenrecorder vorgespielt hatte, als es um die Verführungskraft des Bösen ging – Hannes konnte damit leben, dass die Kirchenältesten ihn kritisierten, solange er die Jugend für Religion begeistern konnte.
Vorne versammelte sich die Familie, Ruth und Severin, Großeltern, Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins. Echos Schwester trug Weiß wie alle Mädchen. Wer trauert, trägt Schwarz, wer das Leben und die Auferstehung feiert, Weiß. Die Abwesenheit der Farben wirkte fremd im grünblau beflaggten Garten und strahlte eine Sachlichkeit, Eindeutigkeit, ja, Wahrheit aus wie sonst nur Buchstaben auf Papier. Die Zumutung des Todes wurde so zu einem objektiven Tatbestand. Anders war es nicht auszuhalten.
Florentine fand sich mit Samuel neben Paul und seinen Kindern ein. Hannes durchzuckte ein unabweisbares Gefühl der Zurücksetzung. Sie sehen aus wie eine Familie, dachte er. Eine große Familie, die allen flüchtigen Erscheinungen, aus denen das Leben besteht, etwas entgegenzusetzen hat. Florentine zog einen dünnen Schal übers Haar, verknotete ihn im Nacken. Sie fing Hannes’ Blick auf, und als die Glocken verstummten, nickte sie ihm kaum merklich zu.
Die Verabschiedung im Namen von Familie und Freunden begann. Früher waren in die Verabschiedung alle einbezogen worden, jeder, dem der Tote auf der Straße einmal „Guten Tag“gesagt hatte. Hannes war froh, dass dies abgeschafft worden war und der Zeitpunkt
nicht länger hinausgezögert wurde, ein Leintuch über den Kopf des Toten zu legen. Bläuliche Fliegen waren über Echos Gesicht gelaufen, in dem sich nie wieder jene rasche Abfolge von Gefühlen zeigen würde – Stolz, Unsicherheit, ein wenig Selbstverliebtheit, seinem Alter entsprechend –, nur um zuletzt zu jenem Ausdruck von Gleichgültigkeit zurückzukehren, der ihn immer ein wenig von den anderen abgerückt hatte.
Hannes sah Echo in der Kirche, das Gesangbuch zugeklappt, er konnte viele Lieder auswendig, sie einmal zu hören reichte. Echo auf dem Fußballfeld, wo er die Dynamik eines Spiels erkannte, ahnte, was die anderen vorhatten, für andere mitdachte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, den Gegner täuschte, leicht, fast mühelos. Echo auf der Bank vor dem Haus, die Beine lang ausgestreckt, zwischen den Lippen einen Halm. Mit durchgebogenem Rücken und ausgebreiteten Armen auf dem Fluss. 16. Fortsetzung folgt