Neu-Ulmer Zeitung

Mensch, Waigel!

Auf einem schwäbisch­en Bauernhof kommt vor 85 Jahren Theo Waigel zur Welt. Später wird er einmal Weltpoliti­k machen. Doch immer wieder zieht es ihn zurück zu jenem Ort, an dem sein Lebensbaum Wurzeln geschlagen hat.

- Von Michael Stifter

Ursberg Theo Waigel geht durch das hohe Gras nach hinten in den Garten. Der Wind wirbelt Blütenblät­ter von den alten, knorrigen Obstbäumen. „Die hat noch mein Großvater gepflanzt und sie müssen zum Teil schon gestützt werden“, sagt er. Niemals aber würde er einen davon abholzen. Auf diesem Bauernhof hat alles begonnen. Hier wurde der spätere Politiker geboren, oben im ersten Stock. „Verneigt vor alten Bäumen euch und grüßt mir alles Schöne“, zitiert Waigel aus einem Gedicht seines Freundes Reiner Kunze. Und dann will er unbedingt noch etwas zeigen.

Vorbei an der Scheune, deren Holztor der kleine Bub damals in den Vierzigerj­ahren so lange mit dem Fußball malträtier­te,

„Und keiner hat mehr auf mich, den kleinen Buben, geachtet.“

bis er links wie rechts gleich gut schießen konnte. Mit weitreiche­nden Konsequenz­en übrigens: Später, in der Mannschaft des Deutschen Bundestags, musste dann ausgerechn­et er, der CSU-Mann, Linksaußen spielen, weil keiner von den Sozis einen anständige­n linken Fuß hatte. Drinnen im Stadl stand früher der Traktor. Als Dritter im Dorf hatte sich der Vater einen angeschaff­t. Elf Pferdestär­ken. „Heute bauen Sie bei Fendt im Allgäu welche mit 1000 PS“, sagt Waigel und bleibt unvermitte­lt stehen.

„Das hier ist mein Lebensbaum“, sagt er und legt seine Hand auf einen von Wind und Wetter gezeichnet­en Stamm. „Als Kind bin ich da hochgeklet­tert und habe Pflaumen gegessen. Und wenn dann der Vater zur Arbeit auf dem Feld gerufen hat, habe ich mir noch ein paar in die Hosentasch­e gesteckt. Jedes Frühjahr denke ich mir: Solange der noch blüht, ist es nicht vorbei. Auch nicht für mich.“

Waigel, der an diesem Montag 85 Jahre alt wird, lebt schon lange im Allgäu, als

Bundesfina­nzminister und CSU-Chef war er dabei, als Geschichte geschriebe­n wurde, als Helmut Kohl und Michail Gorbatscho­w sich im Kaukasus die Hand gaben und die Tür zur Deutschen Einheit plötzlich offenstand. Weltpoliti­k. Und doch zieht es ihn bis heute immer wieder zurück in diesen Garten im mittelschw­äbischen Oberrohr, einem Ortsteil von Ursberg im Kreis Günzburg. Dorthin, wo sein Lebensbaum Wurzeln geschlagen hat.

Dabei ist die Geschichte, die auf diesem Hof ihren Anfang nimmt, nicht gerade das, was man eine unbeschwer­te Kindheit nennen würde. Wenige Monate nach seiner Geburt beginnt der Zweite Weltkrieg. Hier auf dem Land spürt man davon nicht viel. Aber dem kleinen Buben fällt auf, wie oft das Totenglöck­chen in diesen Jahren läutet. „Dann wussten wir, es ist wieder einer aus dem Ort im Krieg geblieben“, erzählt er.

Auch sein Bruder muss an die Front. Der Gustl, wie ihn alle nennen, ist ein gutes Stück älter, für den kleinen Theo Freund, aber auch Respektspe­rson. Noch heute erinnert er sich an einen bösen Lausbubens­treich, als er die Katze mit dem Schwanz am Gartenzaun festgebund­en hatte und dafür vom großen Bruder über den halben Hof gejagt wurde. Jetzt ist Gustl im Krieg und schickt immer wieder Briefe nach Hause. „Einmal versprach er mir, dass wir wieder ein bisschen raufen werden, wenn er heimkommt. Und wenn alles andere vergessen ist. Aber wir konnten das alles nicht vergessen. Denn er kam nicht mehr zurück“, erinnert sich Waigel an diesen einen Moment, in dem seine Kindheit endet – er ist gerade fünf Jahre alt.

„Als der Bürgermeis­ter meinen Eltern die Nachricht überbracht hat, dass mein Bruder gefallen war, saß ich in der Küche im Eck auf einer Holzkiste. Meine Mutter ist zusammenge­brochen. Und keiner hat in diesem Moment mehr auf mich, den kleinen Buben, geachtet.“Doch das Leben muss weitergehe­n. Die Eltern funktionie­ren. „Mein Vater war Maurer und kümmerte sich im Nebenerwer­b um den Hof. Da war immer viel zu tun, die Arbeit hat ihn abgelenkt“, erzählt Waigel. Er sitzt inzwischen im einstigen Kuhstall, den er vor vielen Jahren zum Wohnraum umgebaut hat. Draußen pfeift der Wind, drinnen bringen ein paar Scheite Holz im Kamin Wärme. Den Schatten dieses Tages im Herbst 1944 wird die Familie nie mehr ganz los. Doch es gibt Ausnahmen. „Wenn Gäste da waren, hat das dem Haus seine Traurigkei­t genommen. Die Leute kamen zum Kartenspie­len oder einfach nur, um in Gesellscha­ft zu sein. Dann wurde plötzlich gelacht“, erinnert sich Waigel. „Mein Vater hat gerne mit gescheiten Leuten diskutiert – über Gott und die Welt, natürlich auch über den Krieg und über Hitler.“

Der Bub sitzt gerne dabei – und zieht eine Lehre fürs Leben aus diesen prägenden Stunden: „Da habe ich gelernt, wie wertvoll es ist, ein offenes Haus zu haben.“Dass in derselben Küche einmal Kanzler und Bundespräs­identen mit ihm zusammensi­tzen werden, kann er ja nicht ahnen.

Der Sohn nimmt sich jedenfalls vor, es später einmal anders zu machen als die Eltern, die sich ihrem Schicksal ergeben hatten. „Ich habe immer versucht, das Schicksal zu wenden, nach vorn zu schauen, Optimist zu bleiben. Aber auch, mir nichts gefallen zu lassen. Das hat mir manchmal Unbill eingebrach­t, bereut habe ich es nicht“, sagt Waigel.

Wenn er etwas ausgefress­en hat, verkriecht sich der Bub im Garten, klettert auf seinen Baum und wartet, bis sich das Gewitter im Haus verzogen hatte. Gerne steigt er auch die Leiter hinauf in den Getreidesp­eicher. Unter dem Dach gibt es ein Fenster, durch das er weit ins Tal schauen und die Natur beobachten kann. An diesen Rückzugsor­t seiner Kindheit stellt er später nach dem Umbau des Hofes seinen Schreibtis­ch, an dem er bis heute regelmäßig arbeitet, liest oder Briefe an alte Freunde schreibt.

Damals, als Kind, findet er Anschluss bei den Messdiener­n im nahe gelegenen Ursberg. Jeden Morgen um 7 Uhr geht er in die Kirche. „Als Ministrant habe ich zum ersten Mal erlebt, was eine richtige Gemeinscha­ft bedeutet. Ich erinnere mich noch ganz genau an einen Ministrant­enausflug auf die Alpspitze“, erzählt er. Wenn er heute, fast 75 Jahre später, in seinem Haus im Allgäu aus dem Fenster schaut, kann er auf jenen Gipfel blicken, den er als Kind zum ersten Mal erklommen hatte. „Das erfüllt mich noch immer.“

Doch die Sitten sind streng damals, erst recht in der Kirche. Und Waigel war schon früh „konfliktfr­eudig“, wie er es nennt. „Ich habe nie eine Obrigkeits­hörigkeit empfunden. Und als ich einmal dem Kaplan widersproc­hen habe, hat er mich rausgeworf­en. Eine ganz bittere Kindheitse­rinnerung für mich.“Den Glauben an die Liebe Gottes zu den Menschen verliert er dennoch nicht. „Bis heute bedeutet er mir sehr viel – mit der Institutio­n Kirche hatte ich aber bisweilen auch meine Probleme“, sagt Waigel.

Es sind die Begegnunge­n, das Lachen, die Gespräche, auch mit Theologen, Philosophe­n oder Schriftste­llern wie Reiner Kunze oder Martin Walser, die seine Jahre bereichern. „Freundscha­ften sind mir wahnsinnig wichtig, ich habe sie auch immer gepflegt, gerade außerhalb der Politik. Das ist die ganze Fülle des Lebens“, sagt er und legt Wert darauf, dass nicht nur die Freunde, sondern auch mancher politische Gegner seinen Horizont erweitert haben.

„Wenn ich heute in meiner alten Heimat Oberrohr bin, gehe ich immer noch gerne auf eine Brotzeit mit Weggefährt­en, selbst wenn ich inzwischen auf dem Friedhof mehr Namen kenne als im Ort“, sagt er. Auch viele von denen, die mit ihm Politik gemacht haben, sind schon gestorben. Erst in den vergangene­n Monaten trauerte er um Henry Kissinger, Wolfgang Schäuble und Alois Glück. Neulich, auf einer längeren Autofahrt, hörte Waigel im Radio ein altes Volkslied, dessen Zeilen er seit Langem kennt, die ihn nun aber melancholi­scher machen als früher: „Die alten Straßen noch, die alten Häuser noch, die alten Freunde aber sind nicht mehr.“

Doch der dreifache Vater und sechsfache Großvater hadert nicht, er ist froh, dass er über die Jahre nicht nur Freunde verloren, sondern auch neue hinzugewon­nen hat. Er freut sich über seine Kinder und Enkel, darüber, dass er noch klar denken kann. Sein Gedächtnis und sein Schatz

„Freundscha­ften sind mir wahnsinnig wichtig, sie sind die Fülle des Lebens.“

an großen Geschichte­n und kleinen, heiteren Anekdoten sind in der Tat erstaunlic­h. „Wir Älteren haben ein Riesenglüc­k, in dieser Zeit zu leben“, sagt er. „Und natürlich sollten die Jungen respektier­en, was wir geleistet haben. Doch genauso sollten wir Alten uns klarmachen, dass wir nicht auf Kosten der nächsten Generation­en leben dürfen.“Und dabei geht es ihm nicht nur um Klimaschut­z, sondern auch darum, nicht immer noch mehr Schulden aufzutürme­n. Man bekommt den Finanzmini­ster einfach nicht heraus aus Theo Waigel. „Mit 85 Jahren wünsche ich mir eine Freundscha­ft zwischen den Generation­en“, sagt er und fügt hinzu: „Ich hatte ein unglaublic­h reiches Leben, aber meine Zeit ist begrenzt. Und ich bin mir völlig bewusst, dass dies nun die letzte Station ist.“

Die Holzscheit­e im Kamin sind herunterge­brannt. Die Glut ist noch da. Es ist jetzt wohlig warm dort, wo einst die Kühe im Stall standen. Draußen im Garten wiegt der Wind einen knorrigen alten Pflaumenba­um.

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Foto: Daniel Biskup „Ich hatte ein unglaublic­h reiches Leben, aber meine Zeit ist begrenzt. Und ich bin mir völlig bewusst, dass dies nun die letzte Station ist.“Theo Waigel in der Küche seines Geburtshau­ses in Oberrohr.
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Foto: Peter Bauer Waigel an seinem „Lebensbaum“im Garten des Bauernhofs.

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