Neu-Ulmer Zeitung

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (17)

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Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Hannes lachte und spürte eine tiefe Zuneigung zu dem Mann, der immer eine andere Version der Wahrheit zur Verfügung hatte.

Wind kam auf. Er strich über Hannes’ Gesicht, seinen Hals, verfing sich in seinen Haaren, überrascht­e mit einem schnellen Angriff und zog sich ebenso rasch wieder zurück.

Er verstehe den schlechten Ruf des Windes nicht, bemerkte Ovidiu. Der Wind trage Samenkörne­r mit sich, auf der Suche nach gutem

Boden. Damit etwas wächst, brauche es nicht mehr als die Berührung des Windes. Predige das nicht die Kirche?

Hannes kam nicht dazu, nach einer Antwort zu suchen. Vor dem Eingang hatte sich eine Gruppe versammelt, darunter auch Ruth. Ihre zu lauten Stimmen offenbarte­n, dass etwas nicht stimmte. Severin war verschwund­en.

„Er wird doch nicht…“, hob jemand an.

„Nein, wird er nicht“, entgegnete Hannes.

Ovidiu ging dennoch vorsorglic­h zum Friedhof.

Ruth war in ihrem Zorn wie erstarrt. All die kleinen und großen Verrichtun­gen dieses Tages hatten verhindert, dass die Stunden ins Bodenlose fielen. Doch nach dem heutigen Tag kam der nächste, und darin würde weit weniger Trost zu finden sein, und in der kommenden Woche schon würde alles so weitergehe­n wie bisher, die Besuche weniger werden, die Aufmerksam­keiten, bis irgendwann von ihr verlangt werden würde, dass auch sie in das zurückfand, was sich Normalität nannte. Man sagte, das Leben gehe weiter, und merkte nicht, wie drohend diese Worte klangen. Das Leben ging weiter und somit auch der Tod, denn Echo würde an jedem einzelnen Tag, der noch kam, fortbleibe­n.

Hannes hätte Ruth gern gesagt, dass es leichter war, in dem, was geschah, Gottes Willen zu akzeptiere­n als die Tatsachen selbst. Dass es jetzt nicht darauf ankam zu verstehen, sondern daran zu glauben, dass man trotzdem geliebt wurde. Er wünschte, sie und Severin würden in ihrem Kummer wieder zueinander­finden. Die Worte waren da, doch es war unmöglich, sie auszusprec­hen, sie würden verkehrt herauskomm­en, und Ruth würden sie nichts nutzen. Erneut kam Wind auf, doch er war in jenem Moment etwas, das Hannes sanft berührte. Ein Eulenfalte­r setzte sich auf seinen Unterarm. Vorsichtig hob ihn Hannes auf Augenhöhe. Ruth und er betrachtet­en die Flügel des Falters, ein wellenförm­iges, schwarzes Muster, das an den Rändern in ein helles Türkis spielte.

Als Ruth sich abwandte, hatte sich ihr Gesichtsau­sdruck verändert, und Hannes meinte (vielleicht wünschte er es sich auch nur), dass es die Andeutung eines Lächelns gewesen war.

„Er ist im Stall“, tönte der Mandelbaum.

Ein erneutes Schwanken der Äste. Ein Sprung.

Hannes wollte Samuel den Falter zeigen, doch der war fort.

Sie nahmen einander bei der Hand und gingen zum Kuhstall. In der Dämmerung war ein schwaches Licht zu sehen. Die Kühe kauten andächtig, kaum eine wandte ihnen den Kopf zu. Weiter hinten im Stall stand eine Laterne am Boden. Hannes hob sie hoch, setzte sie auf einen Holzbalken ab. Erst jetzt entdeckte er Severin. Zunächst konnte er die seltsame Verrenkung nicht deuten und zog Samuel an sich.

Die Augen der Jungkuh waren feucht, der Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie sah erstaunt aus. Ihr helles Fell, das tagsüber farblos und matt wirkte, glänzte wie Seide. Severin kniete neben ihr. Er umarmte die Färse, träumte.

die

Jetzt, gerade jetzt, sie wusste nicht warum, spürte sie die Hand des Königs in ihrer Hand. Er lächelte. Er lächelte so, wie die Sonne aufging – die Vögel kündigten sie an, lange bevor sie zu sehen war. Es war ein warmer Apriltag, die Vögel sangen in den Bäumen, flogen auf, und König Michael, der Erste, lächelte.

Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen. Manchmal trifft dich der Schatten eines Berges, manchmal ein Wort. Du gehst einen Hügel hinauf, trägst einen Korb Äpfel, wäschst das Haar, und mit einem Mal öffnet sich eine Tür. Eines Morgens dann willst du nicht mehr aufstehen, hast zu nichts mehr Lust.

Weil die Erinnerung reicht. Karline rieb Kartoffeln und briet sie in einer Pfanne. Sie salzte zu viel. Die Schweinesc­hnitzel wurden geklopft und ausgebacke­n. Zum Salat gab sie Öl, Essig und Zucker.

Der Junge und ihr Mann setzten sich an den Tisch, sie sprachen ein Gebet. Das Essen dauerte kaum länger als zwanzig Minuten. Der Junge fragte, ob er aufstehen dürfe. Er besaß die Gabe, sich unsichtbar zu machen und nur zu den Mahlzeiten aufzutauch­en. Johann setzte sich mit seiner Zeitung in die Laube. Karline räumte den Tisch ab und spülte das Geschirr.

Da verbringt man den Vormittag in der Küche, dachte sie, der Mann isst, ohne ein Wort des Dankes, und hat danach nichts anderes zu tun als Zeitung lesen und in den Zähnen stochern.

Ihre Mutter hatte sich Söhne gewünscht und vier Töchter bekommen. 18. Fortsetzun­g folgt

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