Neu-Ulmer Zeitung

Ungewohnte Suchspiele

Nachdem Julian Nagelsmann seinen Vertrag als Nationaltr­ainer verlängert hat, steht der FC Bayern München vor einem Problem. Möglicherw­eise hilft ein anderer alter Bekannter.

- Von Tilmann Mehl

München Die Zeit in all ihren unterschie­dlichen Ausprägung­en ist eines jener Phänomene, das sich besonders gut im Fußballges­chäft beobachten lässt. So kann für die führende Mannschaft eine Nachspielz­eit von vier Minuten quälend lang sein, während für das zurücklieg­ende Team jene vier Minuten viel zu schnell vergehen. Ähnlich verhält es sich mit einer Zeitspanne von etwa fünf Monaten. Im Nachhinein erwies sich die Spanne zwischen November und April für den FC Bayern München als viel zu lange, um mit den Leverkusen­ern mithalten zu können. Nach elf Spieltagen hatten die Münchner noch keine Liga-Partie verloren und rangierten lediglich zwei Zähler hinter Bayer. Am vergangene­n Wochenende aber sah man sich genötigt, dem neuen deutschen Meister seine Glückwünsc­he auszuricht­en. 16 Punkte an fünf Spieltagen sind selbst für die präpotente­n ehemaligen Dauersiege­r nicht aufzuholen.

Auch und vor allem wegen dieses Rückstande­s haben Verein und Trainer frühzeitig beschlosse­n, am Ende der Saison getrennte Wege zu gehen. Zur kommenden Saison plane man, „eine sportliche Neuausrich­tung mit einem neuen Trainer

vorzunehme­n“, ließ sich Vorstandsb­oss Jan-Christian Dreesen im Februar zitieren. Damals hatten die Bayern noch nicht geglaubt, wie schwer es ihnen fallen würde, einen geeigneten Mann für die sportliche Neuausrich­tung zu finden. Am Freitagvor­mittag wurden die Münchner einer weiteren Alternativ­e für den Trainerpos­ten beraubt. So zumindest dürften sie es empfunden haben, als der DFB bekannt gab, den im Juli auslaufend­en Vertrag mit Julian Nagelsmann bis zur WM 2026 verlängert zu haben. Nagelsmann galt zuletzt als Favorit auf die öffentlich ausgeschri­ebene Stelle in München.

Dass dem so war, zeigt ein weiteres Mal die Relativitä­t von Zeit im Fußballkos­mos. Noch im November schien eine erneute Zusammenar­beit Nagelsmann­s mit den Bayern ähnlich wahrschein­lich wie eine erfolgreic­he EM der deutschen Nationalma­nnschaft. Die hatte gegen die Türkei sowie gegen Österreich verloren, und beim DFB dürfte man sich eher mit dem Gedanken gespielt haben, diesen juvenilen Trainer noch vor der EM wieder loszuwerde­n.

Zwei gelungene Länderspie­le später galt Nagelsmann als perfekte Lösung für das Nationalte­am, und weil sie in München auch immer nach den besten Lösungen streben, flirteten sie recht offensicht­lich mit ihrem Ex. Der aber entschied sich für seine jetzige Mannschaft. „Das ist eine Entscheidu­ng des Herzens“, ließ er ausrichten. Nun gelang es den Bayern schon mehrfach, Spielern und Trainern die Trennung von ihrem Herzensklu­b mit der Perspektiv­e auf Titel und ein prall gefülltes Konto zu erleichter­n – Nagelsmann aber holte bereits eine Meistersch­aft mit den Münchnern, und um sein Auskommen müssen sich auch keine sorgenvoll­en Gedanken gemacht werden.

Binnen weniger Tage hatte es der Trainer im März geschafft, sich in eine exquisite Verhandlun­gsposition zu bringen. Mit den Erfolgen gegen Frankreich und die Niederland­e geriet er zum Hoffnungst­räger. Kaum etwas lässt sich im Fußball ähnlich gut verkaufen wie Hoffnung. Weil im FC Liverpool, dem FC Bayern und dem FC Barcelona gleich drei europäisch­e Vereine von recht anständige­m Ruf für die neue Saison nach einem Trainer fahnden, untermauer­te der DFB seine Hoffnung auf eine weitere Zusammenar­beit mit einem Vertragsen­twurf, den Nagelsmann jetzt annahm. Fraglich, was damit geschieht, wenn die Nationalma­nnschaft bei der EM sämtliche Hoffnungen enttäuscht.

Das wiederum interessie­rt die Bayern höchstens am Rande. Sie befinden sich in einer reichlich ungewohnte­n Position. Sportlich interessie­rt lediglich noch das Abschneide­n in der Champions League, weshalb der Partie am Samstag bei Union Berlin nur untergeord­netes Interesse beigemesse­n wird (18.30 Uhr/Sky). Mannschaft und Trainer richten sich ganz auf die Champions-League-Spiele gegen Real Madrid aus. Und Max Eberl und Co. suchen nach jemandem, der die sportliche Neuausrich­tung vorantreib­t.

Nagelsmann wird es nicht sein, Jürgen Klopp ebenso wenig, Ralf Rangnick mag weiterhin in Österreich bleiben, Xabi Alonso in Leverkusen und Sebastian Hoeneß in Stuttgart. Sogar Thomas Tuchel hat sich als Nachfolger seiner selbst aus dem Spiel genommen: „Ich habe eine Vereinbaru­ng mit dem Verein, die ist kommunizie­rt, und die steht.“Bleibt noch Roberto De Zerbi vom englischen Überraschu­ngsteam Brighton & Hove Albion. Und: Hansi Flick. Der hat vor vier Jahren alles mit den Bayern gewonnen, was es an Silberware so gibt. Ist natürlich schon einige Zeit her. Mit Verweis auf seine eher mäßig verlaufene Zeit als Nationaltr­ainer, liegen auch schon zwei aufeinande­r folgende gute Spiele recht lange zurück. Zeit aber ist relativ – vor allem im Vergleich zu den bayerische­n Nöten.

Wirken von Sportvorst­and Hasan Salihamidz­ic und Vorstandsc­hef Oliver Kahn lag.

Wirklich überrasche­n dürfen solche Gedankengä­nge eigentlich keinen mehr, denn mit Rückholakt­ionen hat der FC Bayern schließlic­h große Triumphe gefeiert. Millionen Euro scheinen im Spitzenfuß­ball sowieso nichts weiter zu sein als Nebensächl­ichkeiten. Abfindunge­n, Ablösesumm­en – alles egal, wenn der Wunschkand­idat her muss, den man schon lange, lange auf der Liste hatte. Ebenso egal ist es dann auch, wenn jener Wunschkand­idat nach wenigen Wochen und Monaten beurlaubt wird, weil man in der Liste irgendwie verrutscht sein muss.

Letztlich bezahlt wird immer in einer Währung: Erfolg. So plötzlich, wie der DFB in Nagelsmann den Retter sieht, so plötzlich könnte der Bundestrai­ner nach einem enttäusche­nden Abschneide­n bei der Heim-EM erneut wackeln. Alles wäre wieder infrage gestellt. Warum hat der DFB also nicht einfach das Turnier abgewartet? Wirklich nur aus Angst vor bajuwarisc­hen Verlockung­en? Wie macht er mit einem Bundestrai­ner weiter, der in der Vorrunde scheitert? Um nicht, wie bei Löw und Flick, den Fehler zu begehen, an einem erfolglose­n Modell zu lange festzuhalt­en, müsste sich der DFB erneut von einem Trainer trennen, sein Gehalt weiterbeza­hlen oder eine Abfindung leisten. Abzuwarten, wäre die bedeutend bessere Lösung gewesen. Der DFB handelte wie ein Getriebene­r.

 ?? Marius Becker, dpa Foto: ?? Sie sind die Zukunft im DFB: Sportdirek­tor Rudi Völler (links) und Bundestrai­ner Julian Nagelsmann.
Marius Becker, dpa Foto: Sie sind die Zukunft im DFB: Sportdirek­tor Rudi Völler (links) und Bundestrai­ner Julian Nagelsmann.

Newspapers in German

Newspapers from Germany